Nach 66 Jahren in der Altstadt will Gisela Joswig ihre Heimat verlassen. Aber will sie wirklich aus Castrop fliehen, oder aus der heutigen Gesellschaft?
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Frau Joswig, wir haben uns über eine Nachricht kennengelernt, die Sie uns geschickt haben. Darin schrieben Sie: „Seit 66 Jahren wohne ich nun in der Altstadt und habe die Hoch-Zeit erlebt, jetzt den seit Jahren zunehmenden Untergang.“ Castrop sei noch nie so dreckig gewesen, wie jetzt. Die Altstadt sei leider für immer verloren. Ist das nicht total übertrieben?
Wie waren die Reaktionen aus Ihrem Umfeld, als neulich unser erster Artikel mit Ihnen erschienen ist? Wirklich nur positiv? Gab es nicht auch Leute, die gesagt haben: ‚Gisela, du hast sie doch nicht mehr alle‘?
Als ich Ihren Brief gesehen habe, dachte ich, Sie sind eine griesgrämige, verbitterte Frau, die einfach keinen Bock mehr auf irgendwas haben. Ich war dann überrascht, als Sie so freundlich, lächelnd und lebensbejahend mit mir sprachen. Gibt es nicht doch noch Dinge oder Orte, die Sie in Castrop genießen können?
Es gibt viele Castrop-Fans und -Enthusiasten. Leute wie Martina Tielker von der Leselust werden zum Beispiel nie müde zu betonen, wie sehr sie die Castroper liebt. Trotzdem sagen Sie, die Altstadt sei für immer verloren.
Sie beklagen nicht nur das Geschäftsangebot, sondern vor allem den Umgang der Bürger untereinander. Was stört Sie daran?
Entschuldigung. Sie sagten, der Großteil der Autofahrer seien Analphabeten. Das ist doch Unsinn.
War es früher nicht auch so, dass sich Leute nicht an Regeln gehalten haben?
Ich habe das Gefühl, dass viele der gesellschaftlichen Entwicklungen, die Sie beschreiben, gar nicht Castrop-spezifisch sind.
Was macht es denn mit ihnen, ihre eigentlich geliebte Altstadt so zu sehen?
Wenn es irgendwie geht, möchten Sie ja gern nach Brandenburg oder Mecklenburg-Vorpommern aufs Land ziehen. Warum eigentlich ausgerechnet dorthin?
Meinen Sie nicht, dass Sie da Wunschvorstellungen haben, die gar nicht der Realität entsprechen? Ich meine, sind Norddeutsche wirklich ganz anders und netter als die Leute hier?
Aber flüchten Sie dann vor Castrop, oder vor der heutigen Gesellschaft?