
Ahmadzia kennt beide Welten. Sicherheit und Wohlstand in Deutschland, die Allgegenwart von Gewalt und Unterdrückung in seiner Heimat Afghanistan. Der Nachname des jungen Geflüchteten tut in diesem Fall nichts zur Sache. Im Internet gehen Informationen bisweilen seltsame Wege, das weltweite Netz vergisst nicht. Dass der 32-Jährige eine Schule in der Provinz Ghazni südwestlich von Kabul unterstützt, beschert Menschen vor Ort Gutes, doch nicht alle sind Bildung gegenüber wohlgesinnt. Es ist Taliban-Land und Wissenserwerb gefährlich.
Niemand weiß, wie es in Afghanistan weitergeht
In Afghanistan ziehen die USA und auch Deutschland militärische Schutzkontingente ab, niemand weiß, wie es weitergeht. Ahmadzia ist dankbar dafür, dass er in Marl in Sicherheit ist. Er will etwas zurückgeben an Menschen, die er bei der Flucht zurücklassen musste. Eine von ihm miterarbeitete Spende in einer Höhe, die hierzulande müdes Lächeln erzeugt, hilft dabei, Kinder zu unterrichten – wenn auch unter ärmlichen Bedingungen: „Die Mütter und Väter dort haben einfach kein Geld für Schulmaterial.“
Der Spenden-Ursprung erzählt sich rasch, alles beginnt im April 2020. Als die Zahl der Coronavirus-Infektionen in die Höhe schießt, beteiligt sich Ahmadzia an einer Initiative, die Mund-Nasen-Masken näht. Mehr als 3000 Masken werden es, die in Marl bei Bürgern und Institutionen Abnehmer finden.
Ehrenamtliche Helfer u.a. aus Kirchengemeinden, der Fatih-Moschee und von der AWO organisieren die Initiative mit geflüchteten Menschen. Sie wollen und bekommen keinen Lohn für die Arbeit. Dafür fließt mancher freiwillige Obolus der Masken-Empfänger. Näherinnen und Näher kommen aus Afghanistan, Syrien, Albanien, dem Kosovo, dem Irak. Sie beschließen gemeinsam, dass das Geld nicht in ihre Heimatländer aufgeteilt werden sollte, sondern nach Syrien und Afghanistan geht.
Mehr als 2000 Euro kommen so zusammen, ein erster Teilbetrag ist jetzt nach Afghanistan gegangen. Als Ahmadzia dies im Gespräch mit der Marler Zeitung erzählt, wird er von Beatrix Ries vom Orga-Team und Mahshid Mirakbari, Flüchtlingsbetreuerin der Stadt Marl, begleitet. Zu den Projektpartnern gehören auch Horst Buddych, Mona Essid Lihedheb Mariola Kozaronek. Ihre Arbeit mit Geflüchteten ist frei von Sozialromantik.
Im konkreten Fall geht es am Ende knallhart darum, ob und wie eine Spende ankommt. Dafür arbeiten die Initiatoren mit eher kleinen „Graswurzel“-Partnern vor Ort zusammen – nicht mit großen Organisationen. Testhalber werden 100 Euro nach Afghanistan geschickt. Nachdem Fotos und Berichte belegen, dass sie tatsächlich eingehen – hier sei dem Internet gedankt – , folgt ein größerer Betrag.
Insgesamt 800 Euro gehen an die Schule, ähnliche Beträge an ein Straßenkinder-Projekt in Kabul von Kufa e.V./Hamburg und an Waisenkinder ins vom Bürgerkrieg zerstörte Syrien.
Unterricht in einem verwüsteten Land
Während in der Marler Politik im Bundestags-Vorvorwahlkampf gerne mal ein vermeintlich schleppendes Tempo von Notebook-Auslieferungen in Schulen zum Streitthema gemacht wird, geht es im Bildungsalltag in der afghanischen Provinz um paar Stifte und Schreibhefte, vielleicht Stühle oder Tische. Ein Zeltdach bietet Schultz vor Sonne, im Winter ist es bitterkalt. Auf Fotos halten Wachen mit automatischen Waffen auf ärmlichen Gebäuden Ausschau.
In Marl drückt man auf einen Schalter, das Licht brennt. Wasser aus dem Hahn kann man bedenkenlos trinken. Straßen mögen mal Schlaglöcher haben, sind aber frei von Sprengfallen. Das Bild von Staatsmacht verkörpern Polizisten hierzulande als Freund und Helfer – und nicht Miliz-Motorradpatrouillen mit Sturmgewehren, die bei Kontrollen Geld und Handys erpressen…
Was kommt, weiß Ahmadzia nicht. Alle sechs Monate geht es um die Aufenthaltsverlängerung. Mahshid Mirakbari ist gebürtige Perserin, sie übersetzt für ihn, wenn Amtsdeutsch zu mühsam oder die Erinnerung so bedrückend ist, dass er sehr leise wird. Der Afghane hat es nach einer Odyssee vor fast vier Jahren bis nach Europa, nach Deutschland, nach Marl geschafft. Mit einem von Taliban zerschlagenen Arm und Bildern einer von ihnen getöteten Schwester im Kopf.