
Theologische Vorträge sind in der Regel keine „Straßenfeger“, aber als einer der prominentesten deutschen Kirchenkritiker am Dienstagabend in St. Agatha auftrat, war die Kirche voll. Eugen Drewermann war von Pfarrer Dr. Stephan Rüdiger eingeladen worden, von „Heilung und Heil“ zu sprechen und den Blick darauf zu lenken, was Jesus uns heute zu sagen hat.
Wer sich spektakuläre Aussagen erhofft hatte über seine jahrzehntelange Auseinandersetzung mit der katholischen Kirche, die 2005 in seinen Kirchenaustritt mündete, wurde möglicherweise enttäuscht. Denn darum ging es am Dienstag genauso wenig wie um den Ukraine-Krieg und die Corona-Impfung – zwei Themen, bei denen Drewermann zuletzt auf „Abwege“ gekommen zu sein scheint, sodass die Mobile Beratung gegen Rechtsextremismus im Regierungsbezirk Münster vor ihm als Verbreiter verschwörungsideologischer Inhalte warnt.
Pfarrer Rüdiger hatte sich im Vorfeld des Abends ausdrücklich von solchen Äußerungen Drewermanns distanziert, aber gleichzeitig seine Achtung vor dem Theologen ausgedrückt. Immerhin, so sagte Pfarrer Rüdiger bei seiner Begrüßung, gelte Drewermanns Deutung der Heiligen Schrift als bahnbrechend. Er hatte bei Drewermann einen theologischen Vortrag „bestellt“, und der 82-Jährige hat „geliefert“. Und wie.
Tiefenpsychologische Deutung
75 Minuten lang, ohne Manuskript in freier Rede, engagiert, aber gewohnt leise, in einer druckreifen, äußerst lebendigen Sprache drehte sich sein Vortrag um die Güte Gottes und die Liebe – Kernthemen seiner tiefenpsychologischen Deutungen von biblischen Passagen.

Immer wieder schlug er eine Brücke von heutigem menschlichen Leid, das ihm Patientinnen und Patienten in seiner Funktion als Psychotherapeut geschildert haben, zu Bibelstellen. Und immer wieder lautete seine Schlussfolgerung, dass Menschen, die andere zu Opfern machen, selber Opfer seien, dass Menschen nicht aus freier Entscheidung fehlbar sind, dass Jesus eine Güte besitze, die nie einen anderen Menschen aufgebe.
„Heilung durch Verstehen [auch der Feinde und vermeintlich Bösen, Anm.d.Red.] ist die Botschaft Jesu“, rief Drewermann den mehr als 250 Zuhörern in der Agathakirche zu.
Dankbar und gerührt
Am Ende bedankte er sich sichtlich gerührt für die überaus zahlreiche Teilnahme an seinem theologischen Vortrag. Es freue ihn, dass sich so viele Menschen für die religiöse Botschaft interessierten. Pfarrer Rüdiger zeigte sich anschließend davon überzeugt, dass jede Zuhörerin und jeder Zuhörer etwas von Drewermanns Gedanken habe „mitnehmen“ können.
Dass dieser feinsinnige Gelehrte sich im Kreise von wütenden Querdenkern und rechten Putin-Unterstützern genauso getragen fühlen könnte wie in der Gesellschaft interessierter Christen – gleichermaßen tragisch wie schwer vorstellbar.