
Es dürfte kaum eine Zeit im Jahr geben, die derart mit festen Bildern und festen Erwartungen verknüpft ist wie die Weihnachtszeit. Die Mühen des sich neigenden Jahres sollen sich in stimmungsvoller, harmonischer, besinnlicher Atmosphäre auflösen. Spannungen und Konflikte sollen vergessen sein, Beschenkte durch das Glitzern in ihren Augen ihre Dankbarkeit den Schenkenden gegenüber ausdrücken.
Man nährt sich mit außergewöhnlichem Essen in warmem Licht, ein Nadelbaum in der Ecke verströmt reich geschmückt als Weihnachtsbaum stimmungsvollen Duft. Die Familie soll zusammenkommen und sich in ihrer liebevollen Verbundenheit bestärken, Paare sollen ihren Einklang zelebrieren, Kinder sich geliebt fühlen.
Wie ein Monopolyspiel hat das Weihnachtsfest in jeder Familie seine festen unabänderbaren Regeln wie etwa diese (mir ist bewusst, dass das bei Einelternfamilien völlig anders aussieht): Heiligabend Bescherung, Besuch der Christmette und vorher mit den Kindern das Vaterunser üben, vielleicht isst man Raclette; erster Weihnachtstag bei seinen Eltern mit unverwechselbarer Weihnachtsgans, zweiter Weihnachtstag kommen ihre Eltern und Onkel Frederik mit seinen schlecht erzogenen Kindern, man serviert stets rheinischen Sauerbraten.
„Zwischen den Jahren“ werden dann noch andere Verwandte abgeklappert, für die es an den Festtagen keinen Platz gab. Wie beim Monopoly machen diese Regeln etwas mit den Menschen.
So traditionell wie die Erwartungen an Weihnachten, so traditionell sind oft die Rollen bei heterosexuellen Paaren: Sie organisiert die Geschenke, hat die Gäste im Blick, dirigiert das Weihnachtsessen. Er stellt den Baum auf, dessen Stamm er vorher mit dem Fuchsschwanz bearbeitet hat, montiert die Lichterkette.
Rollen sind traditionell verteilt
Die Kinder dürfen beim Schmücken helfen. Nicht selten sieht man ihn am 23. oder gar 24.12. doch noch durch die Stadt irren, denn er hat noch kein Geschenk für sie. Das macht ihm ein schlechtes Gewissen, denn sie hat schon im September eines für ihn und für alle Verwandten besorgt.
Das sind selbstverständlich Klischees. Aber auch jenseits der Klischees sind die Regeln meist ebenfalls rigide und aus der Vergangenheit begründet (und sei es, dass man es „endlich einmal anders“ machen möchte und deshalb „immer“ verreist oder sich nichts schenkt) und die Rollen dennoch meist besonders traditionell verteilt.
Bei vielen, die die vorherigen Zeilen gelesen haben, dürfte sich ein unwohles Gefühl in der Bauchgegend eingestellt haben, denn die Erfüllung dieser Bilder ist nicht mit Erlösung von den Mühen, sondern mit Steigerung der Mühen verbunden.
Nichts soll die Harmonie stören
Das Anstrengende an Weihnachten ist nicht nur das, es ist auch alles das, was draußen gehalten werden muss. Alle Spannungen, alle Konflikte sollen gelöst sein, nichts soll die Harmonie stören. Und das gelingt eben nicht immer und erzeugt sehr viel seelischen Druck: Sie ist enttäuscht, dass alles „immer“ an ihr hängenbleibt, er ist enttäuscht, dass sie „nie“ seinen Beitrag sieht, dass sie „immer“ alles macht, ohne ihn einzubeziehen, dass sie so viel nörgelt, dabei könnte es doch so schön sein.
Die Großeltern sind enttäuscht, weil die Enkel nicht so schön mitsingen, wie sie das von sich selbst in Erinnerung haben. Noch komplexer wird es in Patchworkfamilien, denn hier verstehen die Beteiligten ihre Plätze an den Festtagen schnell als Antwort auf die Frage, wer wem wann am wichtigsten ist.
Das Kreuz mit Weihnachten ist, dass Traditionen bereits in der Kindheit angelegt und weitergegeben werden. In der Kindheit ist man versorgt, denn die Eltern besorgen das ganze Fest, die ganzen Geschenke. Das Einzige, das dem Kind zugemutet wird, ist das Warten auf die Bescherung (und es ist vielleicht der eine Onkel, der immer die gleiche doofe Schokolade schenkt).
In der Kindheit wird die Choreografie angelegt. Und der Schneemann an Weihnachten prägt sich besonders gut ein. Ist das Kind erwachsen, muss es nun selbst alles besorgen, der Weihnachtsmann kommt nicht einfach so. Meistens schneit es auch nicht.
Ist das Mädchen brav, hilft es mit
Bereits dem Mädchen wird jedoch immer noch beigebracht, dass es später als Frau für die gute Atmosphäre der Familie verantwortlich ist. Ist es brav, hilft es mit. Frauen übernehmen dann an Weihnachten noch mehr als sonst die Verantwortung und den Mental Load, und Männer überlassen beides dann immer noch gerne ihren Partnerinnen – um den Preis, in eine Kindrolle zu rutschen und den so schön gerade aufgestellten Weihnachtsbaum nicht gewürdigt zu bekommen. Das Patriarchat mit seinen Paradoxien breitet sich besonders ausführlich an den Festtagen aus.
Es liegt auf der Hand, dass es schwierig ist, Enttäuschungen völlig aus dem Weg zu gehen, wenn die Bilder des Gelingens so fest geprägt sind. In Familien mit Kindern können sich vielleicht die Eltern in die Schuhe ihrer Kinder stellen: Was brauchen die Kinder wirklich an Weihnachten? Was brauchen sie von ihren Eltern?
Wer keine Kinder hat, der sieht seine Partnerschaft als das Kind an (Paare mit Kindern dürfen das auch gerne tun): Wenn die Partnerschaft ein Kind ist, was braucht sie wirklich an Weihnachten? Wie kann die Paarbeziehung von beiden die Zuwendung erhalten, die sie braucht, um sich so geborgen zu fühlen, wie man es als Kind erlebt hat oder es sich gewünscht hätte?
Ich bin mir sicher, Sie finden eine oder sogar mehrere Antworten darauf! Ich wünsche Ihnen einen schönes und hinreichend gelingendes Weihnachtsfest!
Benedikt Bock (55) ist Diplom-Psychologe und Systemischer Therapeut mit Anerkennung durch die Systemische Gesellschaft (SG) und eigener Praxis in Dortmund. Seit über 20 Jahren unterstützt er Paare und Einzelpersonen bei Problemen, die sich rund um die Themen Liebe und Beziehungen drehen. Dabei hat er entdeckt, dass Männer manchmal dankbar für einen eigenen geschützten Raum zum Reden sind. Näheres unter www.benedikt-bock.de.