Soziologin über Dortmund „Sozialer Aufstieg wird bei rasant wachsender Armut immer schwieriger“

Dr. Christina Möller ist seit 2022 Professorin an der FH Dortmund für Soziologie.
Dr. Christina Möller ist seit 2022 Professorin an der FH Dortmund für Soziologie. © EYE AM CHRIS
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Die Soziologin und Professorin Dr. Christina Möller von der FH Dortmund forscht seit Jahren zu dem Thema sozialer Aufstieg durch Bildung. Sie hat mehrere Fachbücher veröffentlicht wie etwa das Ende 2024 erschienene Buch „Sozialer Aufstieg durch Bildung?“ Zudem lehrt sie an der FH Dortmund.

Im Interview erklärt Möller, warum soziale Herkunft in Deutschland heute mehr denn je über die Bildungskarrieren unserer Kinder entscheidet, und sich der Trend sogar seit den 90er Jahren verschärft hat. Zudem spricht sie darüber, wieso viele Kinder schon mit zehn Jahren abgehängt werden und warum besonders Kinder mit den schlimmsten Erfahrungen oft sogar deshalb der soziale Aufstieg gelingt.

Frau Möller, was braucht ein Kind, um den Weg nach oben wirklich zu schaffen?

Darauf gibt es keine einfache Antwort. Kinder sind unglaublich unterschiedlich. Manche brauchen intensive Unterstützung durch die Eltern oder andere Bezugspersonen im Leben. Wir nennen das die sozialen Paten. Andere schaffen es aber auch fast allein, weil sie so ein starkes Autonomiebedürfnis entwickeln. In Familien, in denen Gewalt, Lieblosigkeit oder völliges Desinteresse herrschen, kann der Wunsch nach einem besseren Leben zur Überlebensstrategie werden. Gewalt kann zum Aufstiegsimpuls werden.

Manche Kinder sagen sich dann: Ich will hier um jeden Preis raus. Ich arbeite selbst seit Jahren mit Stipendiatinnen und Stipendiaten. Und immer wieder höre ich da sehr ähnliche Geschichten: Es gibt keinen Kontakt mehr zu den Eltern oder Elternteilen, viele sind ganz früh auf sich allein gestellt. Diese Kinder sind gezwungen, früh selbständig zu werden. Wir nennen das die „Klassenflucht“.

Schülerinnen und Schüler sitzen in einer Klasse.
Schülerinnen und Schüler sitzen in einer Klasse.© picture alliance / Bernd Wüstneck/dpa-Zentralbild/dpa

Ist der Weg denn ohne Hilfe von außen überhaupt zu schaffen?

Manche Soziologen gehen davon aus, dass diese Kinder Aufstiegspaten brauchen. Das sind Menschen, die sie unterstützen, motivieren und durchs Leben begleiten. Das können Lehrkräfte sein, Sozialarbeiterinnen, Trainer im Sportverein oder auch Mentorinnen in Förderprogrammen. Solche sozialen Paten sind oft der Schlüssel, um neue Horizonte zu eröffnen. Aber es ist umstritten, ob Kinder, die unbedingt brauchen. Besser ist es aber in jedem Fall.

In Deutschland sprechen wir seit Jahrzehnten darüber, dass die soziale Herkunft darüber entscheidet, ob Kinder sozial aufsteigen. Wie hat sich das in den vergangenen Jahren entwickelt?

Von 100 Kindern aus Akademikerhaushalten besuchen heute 79 eine Hochschule. Von 100 Kindern aus nicht-akademischen Haushalten sind es gerade einmal 27. Diese Schere zeigt: Unser Bildungssystem ist ungleich und ungerecht.

Woran liegt das?

Wir brauchen individuelle Unterstützung für Kinder und Jugendliche, aber vor allem eine Reform unseres Schulsystems. Deutschland und Österreich sind die einzigen Länder der sogenannten entwickelten Länder, die Kinder mit zehn Jahren in der Schule selektieren. Das ist viel zu früh. Diese frühe Weichenstellung benachteiligt Kinder aus nicht-akademischen Familien. Die starten im Leben mit massiven Nachteilen. Ihre Sprache ist oft weniger differenziert, ihre Alltagswelt weniger bildungsnah. Sie konkurrieren mit Kindern, die ihnen drei Schritte voraus sind. Und die Kinder wissen das selbst am besten. Viele Aufsteigerinnen und Aufsteiger berichten von einem permanenten Gefühl, nicht dazuzugehören. Sie arbeiten oft härter, sind fleißiger – und trotzdem bleibt das Gefühl: Ich bin nicht gut genug.

Welche Rolle spielt Geld bei den Nachteilen, die Kinder aus Arbeiterfamilien haben?

Die französische Soziologie liefert eine gute Erklärung: Pierre Bourdieu spricht von verschiedenen Kapitalarten. Es gibt ökonomisches Kapital, also Geld, kulturelles Kapital, also Bildung, Sprache, Wissen und soziales Kapital – also Netzwerke und Beziehungen. Und es gibt das symbolische Kapital – Ansehen und Status der Familie. Akademikereltern geben all diese Kapitalformen fast selbstverständlich weiter. Sie lesen vor, sprechen differenziert, interessieren sich für Politik oder Kunst. Ihre Kinder wachsen in einem Umfeld auf, das sie auf Schule und Hochschule vorbereitet – oft ohne, dass es den Eltern überhaupt bewusst ist. Wir sprechen hierbei auch von einem passfähigen Habitus zu den Anforderungen im Bildungssystem.

Andere Länder zeigen, dass es auch anders geht.

Skandinavien ist hier ein Vorbild. Dort hat man in den 80er Jahren das System komplett umgebaut. In Finnland etwa gehen alle Kinder bis zum 16. Lebensjahr gemeinsam zur Schule. Erst danach erfolgt eine Differenzierung. Das Ergebnis: Weniger soziale Unterschiede im Bildungserfolg und insgesamt höhere Kompetenzen. Finnland war in der ersten Pisa-Studie 2001 nicht umsonst der große Gewinner. Der letzte Pisa-Bericht für Deutschland war alarmierend: Noch nie seit Beginn der Erhebungen im Jahr 2000 waren die Kompetenzen der 15-Jährigen so schlecht wie heute. Das zeigt, wie dringend wir handeln müssen.

Dr. Christina Möller hat bereits Fachbücher zum Thema „Sozialer Aufstieg“ geschrieben.
Dr. Christina Möller hat bereits Fachbücher zum Thema „Sozialer Aufstieg“ geschrieben.© © EYE AM CHRIS

Was müsste in Deutschland denn passieren?

Wir müssten weg von der frühen Selektion und zu einem Systemwechsel in der Schule kommen. Es braucht vor allem ein gutes Bildungssystem und eine Bekämpfung von Armut, weil Armut auch immer Bildungsarmut bedeutet. Wollen wir wirklich, dass arme Kinder weiter in niedrigere Schulformen verwiesen werden, weil sie nicht aus der entsprechenden sozialen Klasse kommen? Viele Menschen, die heute einen Hauptschulabschluss haben, bekommen schon gar keinen Ausbildungsplatz mehr.

Mit Blick auf Dortmund gibt es hier eine große Industriegeschichte von Kohle, Stahl und Bier. Davon ist kaum noch etwas übrig. Welche Folgen hat das für die Chancen auf sozialen Aufstieg?

In den 70er Jahren hat die Politik eine massive Bildungsexpansion begonnen. Hochschulen wurden gegründet, BAföG eingeführt, der zweite Bildungsweg gestärkt. Damals war Aufstieg durch Bildung gesellschaftlich viel mehr gewollt und gefördert – auch für klassische Arbeiterkinder. Heute haben wir stattdessen viele prekäre Dienstleistungsjobs. Dortmund hat, verglichen mit Städten wie Gelsenkirchen, zwar noch etwas mehr Chancen. Aber wir sehen, dass sich der Trend seit den 90er Jahren verschärft hat. Es gibt eine immens wachsende Armut.

Ein sozialer Aufstieg wird also noch schwerer?

Ja, einen Aufstieg muss man sich leisten können. Studierende sind heute extrem von Armut betroffen. Ein Drittel der Studierenden lebt an der Armutsgrenze. Hohe Mieten, gestiegene Lebenshaltungskosten, teure Studienmaterialien – das alles führt dazu, dass viele Schüler abbrechen oder den höheren Bildungsweg gar nicht erst einschlagen können.

Der Bildungsaufstieg bedeutet also noch lange keinen sozialen Aufstieg?

Bildung bedeutet erstmal nur noch, eine höhere Qualifikation zu haben. Ob daraus auch ein sozialer Aufstieg wird – also eine Verbesserung der ökonomischen Lage – ist eine zweite Frage. In manchen Feldern gibt es noch Aufstiegschancen, etwa im öffentlichen Dienst oder in Großunternehmen. Aber die großen, extremen Aufstiegskarrieren werden seltener. Die Bildungsexpansion der 70er und 80er Jahre hat diese Möglichkeiten stärker geöffnet. Seit den 90er Jahren sehen wir aber eine Umkehr der Lage.

Wie könnte die Politik gegensteuern?

Wir brauchen eine echte Bildungsoffensive für unsere Kinder. Mehr Personal, bessere Ausstattung, weniger Selektion. Und vor allem: Armut bekämpfen. Denn Armut bleibt einer der größten Aufstiegshemmer.

Alle bislang erschienen Teile unserer Serie zum Schul-Check finden Sie unter ruhrnachrichten.de/schul-check/

Hinweis der Redaktion: Dieser Artikel erschien ursprünglich am 5. Juli 2025.

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