
In kaum einer anderen Stadt unserer Region ist die Zeit des Nationalsozialismus auf lokaler Ebene so akribisch aufgearbeitet worden wie in Herten. Die gewaltige Informationsfülle, die einst der Historiker Hans-Heinrich Holland (†2011) zum Schicksal der Hertener Juden und der Zwangsarbeiter zusammengetragen hat, diente später weiteren Akteuren als Grundlage, darunter Archivare sowie Schüler und Lehrer des Städtischen Gymnasiums.
Wissensschatz bisher nicht gebündelt verfügbar
Doch dieser Wissensschatz war bisher nicht gebündelt verfügbar, ein Teil auch nur auf Papier. Eine kostenlose App – also ein Programm für Smartphone, Tablet, PC – bereitet textliche Informationen, Fotos, Videos, Audio-Dateien und historische Quellen jetzt zu einem digitalen Stadtrundgang auf. Titel: „Spurensuche in Herten 1933 – 1945“.
Ein Jahr Arbeit haben insbesondere Barbara Keimer (72) und Gerd Kuhlke (70), frühere Lehrer des Gymnasiums, in das Projekt investiert. Den Grundstock bildeten die Informationen zu 17 Gedenkplatten, die sie bis zum Jahr 2012 gemeinsam mit Schülerinnen und Schülern zusammengetragen hatten. „Bei diesen Platten ging es in erster Linie um die Opfer“, blickt Gerd Kuhlke zurück. „Unser Ziel war es jetzt, auch auf die Täter hinzuweisen.“
Die App führt zum Beispiel zur Ecke Hoch-/Hospitalstraße, wo 1938 die Zentrale der Hitlerjugend errichtet wurde. Diese Station zeigt anschaulich die technischen Möglichkeiten der App, denn es werden historische Fotos, ein Kartenausschnitt und ein gesprochener Beitrag verknüpft. Original-Dokumente und ein Video liefert hingegen der Beitrag über den unbescholtenen Metzgergesellen Albert Langer, wohnhaft Ewaldstraße 105, der von den Nazis willkürlich verhaftet wurde und 1940 mit 34 Jahren im Konzentrationslager Dachau starb.
Spuren führen auch nach Gelsenkirchen und Waltrop
40 Spuren enthält die App aktuell, auch zu Gedenkplatten, die erst in Kürze verlegt werden, etwa für die jüdische Familie Simmenauer. Dreh- und Angelpunkt der App ist eine interaktive Stadtkarte, in der alle Spuren eingezeichnet sind. „Es gibt auch Spuren außerhalb Hertens“, ergänzt Kuhlke. So sind die Sammelorte in Gelsenkirchen und Dortmund eingetragen, von denen aus die Hertener Opfer deportiert wurden, sowie das Abtreibungslager für ausländische Zwangsarbeiterinnen in Waltrop.
„Analoge Arbeit digital für die Zukunft aufbereitet“
Bevor sie jetzt veröffentlicht wurde, wurde die App in der Praxis erprobt, und zwar von den denkbar besten Fachleuten. Tim Altegör und Nina Selzer zählten zu jenen Gymnasiasten der ersten Stunde, die an den Gedenkplatten mitgearbeitet haben und dafür 2003 mit dem Hertener Bürgerpreis ausgezeichnet wurden. Bei einer Videokonferenz mit Bürgermeister Matthias Müller zur Vorstellung der App waren beide aus Berlin zugeschaltet. „Es ist schön, zu sehen, dass unsere analoge Arbeit von damals jetzt auch digital für die Zukunft aufbereitet und zur Verfügung gestellt wird“, sagte Altegör. Der dritte App-Tester ist Herten treu geblieben: Maurice Niehoff war als Schüler an der Verlegung der Platte am „Schwarzen Weg“ in Langenbochum beteiligt, engagiert sich heute im Begleitausschuss des Bundesprogramms „Demokratie leben“ in Herten. Fördergelder aus diesem Topf haben die professionell programmierte App möglich gemacht.
Schulen können die App im Unterricht nutzen
Nun gilt es, die App und ihren Wissensschatz bekannt zu machen. Sabine Weißenberg von der Volkshochschule, die das Projekt „Demokratie leben“ koordiniert, möchte sich dafür einsetzen, dass viele Schulen die App im Unterricht nutzen.
Auf 60 Spuren soll diese noch anwachsen, sagt Barbara Keimer. „Viele Themen müssten noch erforscht werden, zum Beispiel das Schicksal der Euthanasie-Opfer oder der Zeugen Jehovas in Herten.“ Unlängst hat sie neues Aktenmaterial der Gestapo (Geheime Staatspolizei) zur Auswertung erhalten. Auch eine Zusammenarbeit mit dem Marler Stadtarchiv strebt sie an, denn dort schlummern Informationen über die NS-Zeit in Bertlich. Der Ortsteil gehörte bis 1975 zum Amt Marl. Barbara Keimer: „Die Arbeit wird uns nicht ausgehen.“
Die Web-App ist online für alle Endgeräte (PC, Smartphone, Tablet) aufrufbar.
Dieser Artikel wurde erstmals am 3. Juli 2021 veröffentlicht.