
Eine aufgeschlagene Bibel ist in einer Kirche nichts Unübliches. Ist diese jedoch über 30 Quadratmeter groß und besteht nur aus natürlichen Materialien, so findet man dies selten noch einmal. Die Rede ist vom Früchteteppich, der – bis auf eine Corona-Zwangspause – jedes Jahr in der Gemeinde St. Maria Heimsuchung ausgelegt wird.
Damit viele Besucher den Teppich im Altarraum bestaunen können, treffen sich zwei Tage vor der Veröffentlichung am Sonntag neun Frauen, um alles vorzubereiten. Wie bei einem überdimensionalen Mandala werden die Felder des Früchteteppichs mit den unterschiedlichen Materialien ausgefüllt, filigrane Linien für die Buchstaben geklebt und die Ränder mit einem individuellen Muster verziert.
Mosaik möchte etwas mitteilen
Am Ende entsteht so nicht nur ein Mosaik zum Dank Gottes, sondern ein Teppich, der den Betrachtern etwas erzählen möchte. In diesem Jahr fordert er dazu auf, die eigenen Werte zu hinterfragen, die wir für ein gemeinschaftliches Miteinander brauchen. Denn so manch eine Vorstellung schließt nicht jeden aus der Gesellschaft ein. Menschen aus der LGBTQ+-Gemeinschaft (Lesbian, Gay, Bisexuell, Transsexuell, Queer etc.) werden häufig an den Rand gestellt.
Doch so muss es nicht sein, darum lautet das Motto des Früchteteppichs 2021: Es geht – anders. Verdeutlicht wird dies unter anderem mit einer Regenbogenfahne, die sich als Lesezeichen in der aufgeschlagenen Bibel wiederfindet. Sie steht für die LGBTQ+ Gemeinschaft und wird gerade in der katholischen Kirche von manchen als kontrovers angesehen.
Die Bibel als zentrales Symbol
Zuletzt war dies zu beobachten, als die katholische Glaubensgemeinschaft durch die Frage, ob homosexuelle Paare den geistlichen Segen erhalten sollen, gespalten wurde. Die Antwort der Kirche, dass dies nicht vorgesehen sei, nutzen viele Gemeinden zum Anlass, um ihre Solidarität mit Homosexuellen auszudrücken.
Der Teppich soll verdeutlichen, dass der Segen nicht nur ein Bittgebet eines Klerikers ist, sondern jeder seinen Segen aussprechen kann. Das zentrale Symbol des Teppichs ist die Bibel, in der gerade Frauen häufig vergessen werden oder bewusst unerwähnt bleiben. So erging es auch der Apostelin Junia, die jahrelang unter einem männlichen Namen fälschlicherweise als Apostel dargestellt wurde. Ein Porträt von ihr soll als Sinnbild für eine Kirche stehen, in der Frauen und Männer gleichberechtigt sind.
Teppich soll keine Provokation sein
Auch wenn der Teppich einige Themen aufgreift, bei denen häufig unterschiedliche Meinungen aufeinanderprallen, ist dieser nicht als Provokation gedacht. Andrea Viermann ist diejenige, die sich die Geschichte und die Symbolkraft des Teppichs überlegt. Sie erklärt: „Die Besucher sollen nicht provoziert, sondern informiert werden. Und auch Menschen, die sich mit den Themen nicht identifizieren können, sollen sich in dem Teppich wiederfinden.“ Sollten Besucher jedoch trotzdem das Bedürfnis haben, über die Motive des Früchteteppichs sprechen zu wollen, ist die Gemeinde offen für den Dialog.

Petra Wöhl-Beer ist eine der Sprecherinnen, die den Besuchern die Hintergründe des Teppichs erklärt. Sie scheut sich nicht davor, wenn ihr jemand mit einer anderen Meinung begegnet: „Ich höre gerne die Argumente der anderen Seite, denn nur so kann man über Missverständnisse aufklären. Ich bin gespannt, ob man wirklich so wie früher mit den Menschen in Kontakt kommt.“
Denn im Gegensatz zu den vorherigen Jahren haben die Besucher nur ein begrenztes Zeitfenster für die Betrachtung. Außerdem sind Spontanbesuche zwar möglich, jedoch mit Wartezeiten verbunden, weswegen die Gemeinde hofft, dass sich alle vorher anmelden.