Mitglieder-Rückgang „Ich brauche die Kirche nicht mehr“

Leere Kirchenbänke sind keine Seltenheit in den Gotteshäusern unserer Region. © dpa
Lesezeit

Die Tendenz ist eindeutig: Die Mitgliederzahlen in der katholischen und evangelischen Kirche im Kreis Recklinghausen sinken. Das zeigen nicht nur die aktuellen Zahlen, sondern auch die langfristigen Entwicklungen: Von 1990 bis 2020 beträgt der Mitglieder-Rückgang im Evangelischen Kirchenkreis Recklinghausen 31,2 Prozent, im Katholischen Kreisdekanat Recklinghausen 28,4 Prozent.

Durchgehender Abwärtstrend: Die Zahl der Kirchenmitglieder im Kreis sinkt kontinuierlich. Dabei umfasst das Katholische Kreisdekanat Recklinghausen die Städte Recklinghausen, Datteln, Oer-Erkenschwick, Waltrop, Herten, Haltern, Dorsten, Marl und Bottrop-Kirchhellen, zum evangelischen Kirchenkreis Recklinghausen gehören die Städte Recklinghausen, Oer-Erkenschwick, Datteln, Waltrop, Herten, Marl und Haltern. © SYSTEM

„Das größte Problem ist hier die Demografie“, sagt dazu Kirsten Winzbeck. „Wir haben seit Jahren wesentlich weniger Taufen als Beerdigungen. Zum Beispiel gab es im Jahr 2019 insgesamt 1770 Verstorbene, aber nur 671 Taufen“, berichtet die Stellvertreterin der Superintendentin im Evangelischen Kirchenkreis Recklinghausen.

Allerdings traten 2019 auch 942 Menschen im Bereich des Evangelischen Kirchenkreises aus, beim katholischen Kreisdekanat waren es 1748. Nach wie vor kehren Jahr für Jahr einige hundert Menschen sowohl der evangelischen als auch der katholischen Kirche in unserer Region den Rücken.

Welche Ursachen hat die bereits lang andauernde Austrittswelle? Pfarrerin Winzbeck sieht hier als ein Hauptproblem die Kirchensteuer: „Kirche ist den Menschen für das Geld nicht wichtig genug. Dabei sehen die Menschen oft nicht den Zusammenhang zwischen der Kirchensteuer und den Diensten, den sozialen Leistungen der Kirche – von den Kitas bis zu den Altenheimen.“ Oft fehle auch der momentane Nutzen kirchlicher Angebote – zum Beispiel für junge Erwachsene, die dann austreten. Hier wünscht sich die 52-Jährige mehr Solidarität: „Bei den Austritten steht der eigene Geldbeutel im Vordergrund. Der Gedanke, etwas für die Gemeinschaft zu tun, wird seltener. Dabei ist die Kita wichtig für die Gesellschaft, auch wenn ich selbst kein Kind im betreffenden Alter habe. Das gleiche gilt für viele andere kirchliche Einrichtungen – von Wohnheimen und Werkstätten bis zu Altenheimen.“

„Die Statistik ist eindeutig, wir dürfen da nichts schönreden“

Kreisdechant Jürgen Quante nennt zwei Gründe für die hohe Zahl von Austritten: „An vielen Stellen ist die Amtskirche schuld“, sagt der katholische Geistliche und erinnert an Themen wie Missbrauch, Klerikalismus und fehlende Gleichberechtigung der Frau. Zum anderen spricht Quante von einer „abnehmenden Gottverbundenheit“ vieler Menschen. „Hier entwickelt sich ein anderes Menschsein – ohne Gott – und das macht mir Sorgen. Wenn die Menschen Gott nicht mehr als ein Fundament erleben, entsteht ein Vakuum, das anders gefüllt wird – zum Beispiel mit der Vergöttlichung von Geld oder Karriere, mit der Sucht nach Genuss“, warnt der Recklinghäuser Priester.

Kreisdechant Jürgen Quante aus Recklinghausen. © Jörg Gutzeit

„Wir werden immer weniger: Die Statistik ist eindeutig, wir dürfen da nichts schönreden. Der Rückgang bei den Taufen ist erschreckend, viele – katholische – Elternteile haben hier kein Interesse. Und nach Corona wird es keinen Run auf die Gottesdienste geben. Viele sagen: Ich brauche die Kirche nicht mehr.“

Wie können die Kirchen die Entwicklung aufhalten oder zumindest verlangsamen?

„Kontakte über niederschwellige Angebote knüpfen“

Jürgen Quante spricht davon, dass Glauben glaubwürdig gelebt werden muss: „Das hat Überzeugungskraft.“ Außerdem versuche die Kirche an der Basis verstärkt, über niederschwellige Angebote Kontakte zu knüpfen. Quante nennt Beispiele: „Wir schicken den Neugeborenen ein selbstgehäkeltes Lätzchen mit ,Herzlich willkommen‘, wir versuchen mit unserer Zeitung ,Geistreich‘ in Recklinghausen präsent auch bei denen zu sein, die uns nicht nahestehen. Das sind neue Formen des Kontakts. Da arbeiten wir zunehmend dran, was aber angesichts von immer weniger Personal schwierig ist.“

Pfarrerin Kirsten Winzbeck aus Marl. © Torsten Janfeld

Kirsten Winzbeck nennt zwei wichtige Zukunfts-Aufgaben: „Zum einen kann nicht jeder alles machen. Wir müssen in den einzelnen Pfarreien thematische Schwerpunkte bilden – zum Beispiel zu Musik oder Kunst. Hier Kräfte zu bündeln und sich mit anderen zu vernetzen, bedeutet auch, die Arbeit besser machen zu können.“ Zum anderen spricht die Pfarrerin von Kinder-, Jugend- und Familienarbeit – von Ferienfreizeiten bis zu Tagesangeboten. „Hier müssen wir in Zukunft deutlich mehr Energie reinstecken.“

„Konzentration auf Verkündigung und Seelsorge“

Außerdem betont Winzbeck, dass es bereits gute kirchliche Arbeit gibt: „Wir sind zum Beispiel bei Amtshandlungen von der Taufe über Hochzeiten bis zur Beerdigung richtig gut. Und das wird auch von den Menschen wahrgenommen. Sie wollen an den Eckpunkten ihres Lebens christliche Begleitung.“ So müsse man sich in Zukunft auch auf die Kerngeschäfte Verkündigung und Seelsorge konzentrieren – wenn man noch kleiner werde, noch weniger Personal habe. Aber die 52-Jährige ist sicher: „Auch in 20 Jahren wird es noch Menschen geben, für die die Kirche sehr wichtig ist und Gott – zum Teil unabhängig von der Kirche – eine große Bedeutung hat.“

„Die Kirche der Zukunft – wir gehen da ins Ungewisse“

Bei der Frage nach der Kirche in zwei Jahrzehnten schwankt Jürgen Quante zwischen Hoffen und Bangen: „Ich habe Sorgen: Dass wir den Mitgliederrückgang nicht aufhalten können, dass in der Kirche die Tendenz sich abzuschließen größer wird, dass die Kämpfe zwischen Bewahrern und Reformkräften zunehmen. Andererseits habe ich das Gottvertrauen, dass wir die Krisenzeit überwinden, dann bewusster Christ sind, eine überzeugende Form finden, Kirche zu sein.“ Und nach kurzem Überlegen fügt der 72-Jährige hinzu: „Die Kirche der Zukunft – wir gehen da ins Ungewisse. Aber das war bei Petrus und Paulus nicht anders.“

Mehr Jobs

Sie sind bereits registriert?
Hier einloggen