
Wenn es um die jüngere Geschichte der Stadt Marl geht, macht Sylvia Eggers kaum jemand etwas vor. Als sogenannter Regioguide führt die Rentnerin regelmäßig Gruppen durch die Stadt. Dazu ist sie seit mehr als 15 Jahren in der Marler Geschichtswerkstatt aktiv. Auf der ständigen Suche nach neuen Themen wurde sie auf einem Antikmarkt fündig. Dort entdeckte sie eine Schrift namens „Der Vertrag von Versailles“ aus dem Jahr 1933. Geprägt von rechtem Gedankengut geht es darin um den Friedensvertrag von 1919. Zu dessen Auswirkungen auf Marl vor 100 Jahren trug Sylvia Eggers viele weitere Dokumente zusammen.
Soldaten im Lindenhof
132 Milliarden Goldmark waren die Forderungen der Siegermächte des Ersten Weltkriegs an Deutschland. Weil das unbezahlbar war, bestanden unter anderem Frankreich und Belgien ab 1922 auf Sachleistungen wie Kohle, Stahl und Holz. Um die Lieferung der geforderten Güter zu garantieren, besetzten Franzosen und Belgier ab dem 11. Januar 1923 das Ruhrgebiet. „Am 6. Februar waren die Belgier auch in Marl“, sagt Sylvia Eggers. Untergebracht wurden die Soldaten im Lindenhof in Alt-Marl, im Amtshaus an der Vikariestraße wehte die belgische Fahne.

Nachdem Reichskanzler Wilhelm Cuno in Berlin am 13. Januar 1923 zum „passiven Widerstand“ gegen die Besatzer aufrief, hatte das auch auf das Leben in Marl direkte Auswirkungen. In den Bergwerken Auguste Victoria und Brassert beispielsweise wurde die Förderung drastisch heruntergefahren, wie Sylvia Eggers erklärt. Wurden dort 1922 noch 584.000 (AV) bzw. 405.000 (Brassert) Tonnen Kohle gefördert, waren es ein Jahr später nur noch 181.000 bzw. 136.000 Tonnen. Das war ein Problem, denn Kohle wurde in den Haushalten damals auch im Sommer gebraucht. Nicht unbedingt zum heizen, aber zum kochen.
Zur Linderung der Not im Ruhrgebiet übernahm die Reichsregierung die Zahlung der Löhne für zwei Millionen Arbeiter. Dafür wurde kurzerhand mehr Geld gedruckt, was zu einer Inflation führte. „Das Geld wurde teilweise ins Ruhrgebiet geschmuggelt“, teilt Sylvia Eggers mit. Betriebe wie die Auguste Victoria druckten sogar selbst Geld. „Ehefrauen nahmen schon am Zechentor das Geld in Empfang. Dafür bekamen sie dann vielleicht ein Brot.“

Betriebsleiter überfallen
Die Umstände samt einsetzender Hungersnot führte in Marl dazu, dass AV-Betriebsleiter Paul Stein Anfang August in seinem Büro von 15 Männern verprügelt wurde. Die Lohnzahlungen waren ihnen zu gering. „Nachts wurden auch Kartoffeln von Feldern gestohlen“, so Sylvia Eggers. Im September 1923 wurde der passive Widerstand aufgehoben. Die Ruhrbesetzung endete gemäß dem 1924 erstellten Dawes-Plan im Sommer 1925. Die Belgier hatten Marl bereits im November 1924 wieder verlassen.