
Marl/ Essen. Den Kopf gesenkt, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen: Knapp sechs Monate nach einer absoluten Albtraumtat hat in Essen der Prozess gegen einen 21-Jährigen aus Marl-Brassert begonnen. Die Anklage lautet auf Mord und Mordversuch.
Es war die Nacht auf den 10. November 2020, als der Angeklagte durch ein geöffnetes Badezimmerfenster in die Wohnung seiner bereits schlafenden Nachbarin eingestiegen ist. Die 27-Jährige hatte keine Chance. Immer wieder hat der Angeklagte mit zwei Messern auf sie eingestochen. Genau, wie anschließend auch auf ihren gerade einmal vierjährigen Sohn.
Ein Avatar mit schwarz-goldenen Flügeln
All das hat der Gartenbauhelfer am ersten Verhandlungstag bereits gestanden. Auslöser soll der Befehl einer Computer-Figur gewesen sein, die von ihm selbst erschaffen worden war. Ein sogenannter Avatar mit schwarz-goldenen Flügeln.
„Die Stimme hatte mir aufgetragen, etwas Böses zu tun“, hieß es in einer von Verteidiger Hans Reinhardt verlesenen Erklärung. „Ich müsse doch sehen, wie es aussieht, wenn jemand stirbt.“ Und zwar nicht in der virtuellen Welt, sondern in der realen.
Gegen diese Stimme habe er sich in der Tatnacht nicht durchsetzen können. Anders als zuvor, als sie ihm befohlen habe, auf Eltern und Schwester einzustechen. Auch damals habe er schon mit einem Messer in der Hand vor der Schlafzimmertür seiner Eltern gestanden, dann aber einen Rückzieher gemacht. „Die habe ich so lieb“, heißt es in seiner Erklärung. „Da habe ich mich durchgesetzt und das dann doch nicht gemacht.“
Tat wie ein Beobachter erlebt
Den schrecklichen Todeskampf seiner Nachbarin will er damals wie ein Beobachter erlebt haben. So, als wenn er damals doppelt existiert hätte – einmal als Täter, einmal als Beobachter.
Nach der Tat hatte er ein Video des schwer verletzten Jungen gemacht und an einen Computerspielfreund geschickt. Einer Freundin schrieb er außerdem diese WhatsApp-Nachricht: „Ich habe Mist gebaut. Ich habe zwei Menschen getötet.“ Dass der Vierjährige noch nicht tot war, war dem Angeklagten damals offenbar nicht bewusst gewesen. Der Junge hatte durch mehrere Stichverletzungen schwerste innere Blutungen erlitten. Sein Leben konnte wahrscheinlich auch deshalb gerettet werden, weil die Freunde des Angeklagten sofort die Polizei alarmierten.
Bestrafung unklar
Ob der 21-Jährige überhaupt bestraft werden kann, ist unklar. Im Prozess ist von einer schweren psychischen Erkrankung die Rede. Der kleine Junge lebt inzwischen angeblich bei seinem Vater. Von seiner Mutter werden ihm wahrscheinlich kaum eigene Erinnerungen bleiben.
Mit einem Urteil ist voraussichtlich in der zweiten Junihälfte zu rechnen.