Kunst- und Baugeschichte Auf den Spuren des Barocks in Recklinghausen

Beispiel spätbarocker Baukunst in Recklinghausen: die Alte Apotheke an der Breiten Straße. © Dr. Werner Koppe
Lesezeit

Die ironisch gemeinte Stilrichtung des „Gelsenkirchener Barock“, mit der wuchtige und in der Regel bauchige Möbel aus der Zeit um 1930 bzw. 1950 bezeichnet werden, versehen mit der Sehnsucht nach bürgerlicher Wohnkultur in eher kleinbürgerlichem Milieu, ist nicht gemeint, wenn vom Recklinghäuser Barock berichtet wird. Dennoch löst es vermutlich Erstaunen aus, die Vest-Stadt und den Begriff „Barock“ in einem Atemzug zu nennen. Sicherlich gibt es in Recklinghausen genügend Beispiele für diesen Kunst- und Baustil. Allerdings handelt es sich dann in der Regel um eine Neubelebung, wie sie gegen Ende des 19. Jahrhunderts zuhauf als Neostile auch für andere Epochen Mode wurde.

„Barock“ bezeichnet eigentlich eine schiefrunde Perle

Doch zunächst lohnt es sich, kurz auf den Begriff „Barock“ einzugehen. Nachdem im Hoch- und Spätmittelalter die Kunst- und Architekturstile Romanik und Gotik beherrschend waren, entwickelte sich die Renaissance zwischen 1520 und 1660 als erste neuzeitliche Stil-Epoche. Danach kam eine neue Stilrichtung auf, die zunächst keinen eigenen Begriff entwickeln konnte und eher als Fortsetzung der Renaissance angesehen wurde. Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts kam dafür der Begriff „Barock“ auf, der vom portugiesischen Wort „barocco“ stammt und eigentlich eine schiefrunde Perle bezeichnet. In Westfalen bildete sich sogar der „Westfälische Barock“ als eigene Stilepoche heraus. Allerdings weist seine Entwicklung gegenüber den prunkvollen Beispielen Süddeutschlands eine eher schlichte Formensprache auf.

Propsteikirche St. Peter weist einige barocke Details auf

In Recklinghausen entstanden daher auch nur wenige Objekte des Barock, vielmehr wurden häufiger vorhandene Kunst- oder Architekturbeispiele mit barocken Details ausgestattet oder überarbeitet.

Das älteste Recklinghäuser Bauensemble mit einer Vielzahl unterschiedlicher Stilrichtungen ist die Kirche St. Peter. Sie weist sowohl architektonische als auch kunstbezogene barocke Details auf. Dazu zählt als augenfälligstes Teil-Objekt der Kirchturm mit seinem unverwechselbaren Dach. Ursprünglich besaß er eine schlanke, hoch aufragende Form mit einer gotischen Dachausführung. Nachdem er jedoch gegen Ende des Dreißigjährigen Krieges (um 1640) durch Kanonenbeschuss und einige Jahre später durch Blitzschlag starken Schaden genommen hatte, stürzte er 1652 teilweise ein. Der notwendige Wiederaufbau wurde sogar vom kurfürstlichen Landesherrn unterstützt, sodass ein niederländischer Baumeister aus Roermond bis 1669 die Turmruine wieder aufmauern konnte. Vollendet wurde der Bau im folgenden Jahr durch die Baumeister Heinrich Bauer und Heinrich von Coesfeld und zeigt sich seither mit der welschen Dachhaube, aufgesetzter Laterne und zwiebelförmigem Dachabschluss.

Hochaltar mit Bezügen zu Peter Paul Rubens

Im Innern der Petruskirche entstand bereits um 1617 mit dem neuen Hochaltar ein ganz früher Vertreter des Barock in Westfalen, der aber noch Renaissanceanklänge aufwies. Der hölzerne Altaraufbau besteht aus zwei Teilen: Der hohe Unterbau enthält das Gemälde einer Kreuzabnahme aus der Rubensschule von Antwerpen zwischen gewendelten Schmucksäulen. Dabei handelt es sich um die Nachschöpfung eines Rubens-Originals aus der Liebfrauenkirche in Antwerpen. Es gelangte über Ruhrort nach Recklinghausen. Vermutlich gegen Ende des 17. Jahrhunderts entstand das zweite Altarbild der Schlüsselübergabe an Petrus, das sich im oberen Altaraufsatz befindet.

Ein ganz früher Vertreter des Barock in Westfalen: der Hochaltar in der Propsteikirche St. Peter. © Dr. Werner Koppe © Dr. Werner Koppe

Darüber hinaus wurde St. Peter während der Barock-Zeit mit weiteren Kunstobjekten ausgestattet: dem Taufbecken von 1630 sowie den Figurenplastiken der Heiligen Petrus, Paulus, Josef und Johannes von Nepomuk. Ergänzen lässt sich die Reihe durch verschiedene Sakralgegenstände.

Aus dem Jahr 1666 stammt ein zweiter barocker Sakralbau, die ehemalige Klosterkirche des Franziskaner-Ordens und heutige Gymnasialkirche. Nachdem Franziskaner-Mönche während des Dreißigjährigen Krieges 1632 von Dorsten geflüchtet waren und sich mit Erlaubnis des Kölner Kurfürsten Ferdinand in Recklinghausen niederlassen durften, bauten sie zunächst die Kirche und zehn Jahre später auch die Klostergebäude. An der Kirche wurden in der Folge mehrfach Bauarbeiten vorgenommen, so nach dem Brand im Jahr 1686. Das Kirchengebäude wurde einschiffig und vierjochig ausgeführt, besaß also vier Gewölbeabschnitte. Die anfängliche Innengestaltung wurde allerdings 1838 dem Zeitgeschmack gemäß klassizistisch umgestaltet. Die einzige Erinnerung an den ursprünglichen Barockbau weist nur noch der im Jahr 1716 als sogenannter Dachreiter errichtete barocke Turm mit seinen zwei Glocken auf.

Altaraufsätze in der Gastkirche stammen aus dem 17. Jahrhundert

Am dritten Kirchengebäude der Altstadt, der Gastkirche, sind keine baulichen Zeugen des Barockzeitalters aufzufinden, wohl aber zwei Altaraufsätze aus dieser Zeit, die in kleinerem Format dem Hochaltar von St. Peter ähneln. Der zwischen 1650 und 1678 datierte Altaraufsatz bildet den Rahmen für ein Relief zur Leidensgeschichte des heiligen Sebastian. Der zweite Altar mit einem kunstvollen Barockaufsatz des 17. Jahrhunderts enthält hingegen eine um 1400 entstandene Kreuzigungsgruppe aus Baumberger Sandstein.

Fehlen darf in dieser Betrachtung auf keinen Fall die unmittelbar vor dem Lohtor befindliche kunsthistorisch bedeutsame Kreuzigungsgruppe. Sie stammt aus dem Jahre 1720 und wurde von den Eheleuten Schaumburg gestiftet.

Kunsthistorisch bedeutsam: die Kreuzigungsgruppe von 1720 am Lohtorfriedhof. © Jörg Gutzeit (Archiv) © Jörg Gutzeit (Archiv)

Daneben gibt es in Recklinghausen eine Reihe von barocken Bürgerhäusern mit mehr oder weniger auffälligen Stilelementen.

Bei der Engelsburg handelt es sich um das älteste noch vorhandene Gebäude dieser Stilepoche, das gleichzeitig ein Beispiel für die Herrschaftsform des Absolutismus ist. Der Bauherr Clamor Constantin Münch war nämlich als kurfürstlicher Richter höchster Repräsentant des Landesherrn, der in Bonn residierte. Das heutige Hotel-Ensemble entstand nicht von Beginn an als Dreiflügelanlage. Zunächst wurde das Herrenhaus mit einem Ostturm und dem eingeschossigen Ostflügel errichtet. Der zweigeschossige Westflügel mit Remise entstand 1713 bis 1715. Erst im 19. Jahrhundert erhielt das seit 1822 unter dem nicht erklärbaren Namen „Engelsburg“ bekannt gewordene Ensemble durch die bauliche Verbindung der Nebengebäude mit dem Herrenhaus den Charakter einer Dreiflügelanlage.

Die Engelsburg ist das älteste noch vorhandene Barock-Gebäude in Recklinghausen. © Dr. Werner Koppe © Dr. Werner Koppe

Der Barockcharakter ist am und im Herrenhaus erkennbar. Markant ist das zwei-geschossige Gebäude mit seinen elf Fensterachsen und dem betonten Mittelteil. Die rundbogige Eingangstür wird von Pilastern eingefasst und oberhalb von einem Sprenggiebel mit einem elliptischen Fenster (Ochsenauge) markiert. Eine Inschrift am Portal verweist auf 1701 als Baujahr. Die Gebäudemitte wird durch einen mit einer Gaube ausgestatteten geschweiften Barockgiebel, einen sogenannten Volutengiebel, verstärkt. Im Innern verfügt das Haus über einen nach Norden führenden barock gestalteten Gartensaal mit reich ornamentierter Stuckdecke und einem prachtvollen Kamin. Der heutige Hotelgarten entlang der ehemaligen Stadtmauer war ursprünglich als Barockgarten angelegt.

Wulffsches Haus besticht durch Mansarddach mit Ochsenauge

Um 1736 war das sogenannte „Bürgermeisterhaus“ oder „Franz-Bracht-Haus“ im Caspersgässchen 6 erbaut worden, das aber wegen seiner Schlichtheit keine besonderen stilistischen Betrachtungen zulässt. In der Nachbarschaft, an der Heilige-Geist-Straße 2, wurde hingegen 1780 ein vom Aussehen her typisches spätbarockes Bürgerhaus errichtet. Der kurfürstliche Beamte Joseph Anton Rive und seine Frau Maria Sybilla hatten 1775 Grundstück und Haus aus dem Besitz der Familien Horst und Wilbring gekauft und nach Abbruch des Gebäudes den heutigen Bau errichten lassen.

Das zur Straße hin giebelständige Haus, das man heute als Wulffsches Haus kennt, ist auf der Eingangsseite fünfachsig und mit Sandstein gefassten Fensterlaibungen ausgestattet. Die Fassadenmitte wird von einer ebenfalls sandsteingerahmten Türöffnung mit einem Segmentabschluss und waagerechter Verdachung geprägt, die durch den heutigen Glasvorbau nicht mehr wirklich sichtbar ist. Der mittige Segmentgiebel im Mansarddach wird durch ein ovales Fenster (Ochsenauge) hervorgehoben.

Von ähnlichem Typus ist die „Alte Apotheke“ in der Breite Straße, ein spätbarocker Bau aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Allerdings markieren hier ein rundbogiges Portal mit nach innen gelegter Barocktür und ein Dreiecksgiebel im Mansarddach die Frontmitte des fünfachsigen traufständigen Hauses. Im Kern handelt es sich bei der „Alten Apotheke“ um ein Fachwerkhaus mit vorgeblendeten Barockfronten nach Osten und Süden. Seit 1832 war in diesem Gebäude eine Apotheke der Familie Strunk untergebracht, die jedoch Anfang 2021 aufgegeben wurde.

Wort- und Sacherklärungen:

Welsche Haube – „welsch“ bedeutet italienisch oder fremd und bezeichnet in diesem Fall die auch als Zwiebelform bekannte Dachkonstruktion, die in der Zeit der Renaissance aufkam.

Rubens, Peter Paul (1577-1640) – der in Siegen geborene bekannte Barockmaler wirkte bis zu seinem Tod in Antwerpen und unterhielt hier ein großes Atelierhaus mit einer „Künstlerschule“.

Klassizismus – bezeichnet eine kunstgeschichtliche Epoche etwa zwischen 1770 und 1840. Der Klassizismus löste den Barock bzw. das Rokoko ab.

Pilaster – (von lateinisch pila für Pfeiler) ist ein pfeilerartiges Formelement in der Architektur.

Ochsenauge – eine seit der Antike bekannte Fensterform, die auch von der Romanik und Gotik aufgenommen wurde. Vor allem im Barock fand sie große Verbreitung.

Volutengiebel – eine Giebelform, bei der seitlich Voluten angebracht sind. Der in der Architektur angewandte Begriff „Volute“ (lateinisch, das Gerollte) stammt aus dem Französischen und meint eine Schneckenform oder Spirale in der künstlerischen Ornamentik.

Mansarddach – diese Dachform, das sogenannte „gebrochene Dach“, war im 18. Jahrhundert in Frankreich sehr verbreitet. Dadurch wurde die Anlage von Räumen mit senkrechten Wänden im Dachbereich erleichtert. Der Name geht auf die französischen Baumeister und Architekten François Mansart (1598-1666) und seinen Großneffen Jules Hardouin-Mansart (1646-1708) zurück, die diese Konstruktion in Paris populär machten.

Mehr Jobs

Sie sind bereits registriert?
Hier einloggen