
Den Grünen riss bei diesem Thema kürzlich der Geduldsfaden. Wie berichtet, forderte ihr Fraktionschef Holger Freitag, Autos kurzfristig mit Pollern auf der Münster- und Augustinessenstraße zu stoppen. Langfristig müsse der Autoverkehr aber möglichst komplett aus der Innenstadt „ausgesperrt“ werden. Freitag mahnte ein Gesamtkonzept an und machte vor allem Bürgermeister Christoph Tesche (CDU), dafür verantwortlich, dass sich bei dem heiklen Thema nichts bewege.
Diesen Vorwurf kontert Tesche so: „Ich sehe Holger Freitag alle 14 Tage bei unserer Koalitionsrunde. Er hat mich nie darauf angesprochen. Deshalb bin ich über die Kritik sehr verwundert. Sie ist auch inhaltlich nicht berechtigt. Wir waren in dieser Frage im Auftrag des Rates ja nicht untätig.“ Dies könne man einem Zwischenbericht zum Verkehrskonzept entnehmen, den seine Verwaltung der Politik zur Verfügung gestellt habe. Ziel dieses Konzeptes sei es unter anderem, den Innenstadt-Lieferverkehr in Zukunft „weitgehend“ mit Lastenfahrrädern und Elektro-Fahrzeugen abzuwickeln.
Doch das Konzept kommt nicht in Riesenschritten voran, zurzeit gibt es eher planerische Trippelschritte. Tesche räumt ein, dass die (Verkehrs-)Lage in der sogenannten „Guten Stube“ tatsächlich kompliziert sei, und sie werde tendenziell eher noch komplizierter. „Natürlich funktionieren versenkbare Poller unter gewissen Umständen. In meiner Heimatstadt Greven habe ich zuletzt welche gesehen, und die stammen ironischerweise sogar von einer Recklinghäuser Firma.“ Aber die Fußgängerzone einer Kleinstadt sei etwas anderes als die Recklinghäuser City, in der viele Unternehmen und Ärzte angesiedelt sind und in der viele Menschen auch wohnen – und ihre Autos parken.
Trend: Wohnen in der Altstadt – 1644 Menschen mit 685 Privat-Pkw
Tatsächlich leben in der Altstadt (inklusive der Wälle) 1644 Menschen, wie Axel Tschersich, Fachbereichsleiter für Wirtschaftsförderung und Stadtmarketing, bestätigt. „Und diese Anwohner haben 685 Autos angemeldet.“
Für Tesche werde sich die unbequeme Frage nach „Wohnen in der Altstadt“ künftig sogar noch verstärkt stellen: „Es ist längst überall Trend, dass der in den Innenstädten unter Druck stehende Einzelhandel durch mehr Dienstleistung und Wohnen ergänzt werden sollte.“
Natürlich, sagt der Bürgermeister, störe es auch ihn als Gast einer Außengastronomie, „wenn Autos nah an den Tischen vorbeifahren“. Dies gelte erst recht, „wenn dort jemand nur seine Status-Runden dreht, wie etwa der stadtbekannte Fahrer einer roten Corvette“. Auch Tesche vertrete die Position, dass der Verkehr so reduziert werden müsse, dass es angenehm bleibe, durch die Altstadt zu bummeln, dort einzukaufen und einzukehren. Aber auch die Gastronomie-Branche selbst verursache immer mehr Verkehr: „In der Pandemie haben manche Gastronomen einen Lieferservice aufgebaut, um noch Umsatz machen zu können. Aktuell haben 14 Lieferdienste Anträge bei der Stadt gestellt, weitere 25 Liefer-Fahrzeuge in der Innenstadt zuzulassen.“
Wenn der Poller mal streikt, droht das Verkehrschaos
Nur ein versenkbarer Poller, der vielleicht einmal streike, könne schnell enorme Probleme auslösen, glaubt Tesche, dem dabei unter anderem bestehende Parkhäuser, große Arztpraxen und Apotheken einfallen. Im Ex-Karstadt-Gebäude würden zudem bald ein weiteres Hotel und eine Kindertagesstätte eröffnet. Es sei „äußerst schwierig“, so Tesche, dies alles unter einen Hut zu bekommen. „Und bei einem Thema wie der Installation von Pollern, das große Veränderungen mit sich bringt, braucht es einen breiten Konsens.“ Auch weitere Großbaustellen seien absehbar, sagt der Bürgermeister. Es gebe mehrere Investoren, die ihre Altstadt-Immobilien bald kernsanieren oder gleich abreißen und neu bauen wollen. Etliche Handwerker- und Baufahrzeuge würden dann Dauergäste in der Altstadt sein.
Ist eine autofreie Altstadt also unmöglich? Die Grünen schlagen vor, um den Lieferverkehr aussperren oder wenigstens massiv zurückdrängen zu können, spezielle Haltebuchten am Wallring einzurichten. Dort könne dann zum Beispiel auf Lastenfahrräder umgeladen werden, und ab geht‘s zum Laden.
Tatsächlich sah ein erstes Konzept der Stadt bereits im Jahr 2016 etwas Ähnliches vor: mehrere am Rand der City verteilte Lieferendpunkte und ab da Lastentaxis für die „letzte Meile“, die im damaligen Konzept bis zu 300 Meter lang gewesen wäre. Dagegen hatten mehrere Unternehmer jedoch massiv protestiert, auch die Politik verwarf die Idee mehrheitlich sogleich als unausgegoren. In der Folge gab es weitere Arbeitsaufträge des Rates an die Stadtverwaltung, weitere Konzept-Wünsche, aber nicht viele neue Ideen.
Auf die Frage, ob es möglich sei, dass es am Ende vielleicht gar kein Konzept geben könne, das alle widerstreitenden Interessen in der Altstadt berücksichtigt, antwortet Christoph Tesche: „Ja, das halte ich für möglich.“ Und ob der Prozess darauf hinauslaufen könne, versenkbare Poller nur um den engeren Kern der „Guten Stube“ herum einzusetzen? „Das halte ich für eine sehr brauchbare Idee.“