
Der tragische Zugunfall vom 2. Februar 2023 in Recklinghausen, bei dem ein Kind zu Tode kam und ein weiterer Junge schwer verletzt wurde, befindet sich weiterhin im Stadium der Aufarbeitung. Tatsächlich gab es eine umfangreiche Berichterstattung in vielen Medien, nachdem unsere Redaktion den Fall aufgegriffen hatte.
Zu den dabei erhobenen schwerwiegenden Vorwürfen hinsichtlich des Einsatzablaufes und nachgelagerter Geschehnisse beziehen Stadt und Kreis nun Stellung. Dabei berufen sich die Verwaltungen auf eigene Prüfungen, aber auch auf die Erkenntnisse externer Fachleute. Auf Empfehlung des NRW-Innenministeriums sei Albrecht Broemme, über lange Jahre Leiter der Berliner Feuerwehr und Präsident der Bundesanstalt Technisches Hilfswerk (THW), hinzugezogen worden.
Der Zugunfall sei, so heißt es in der Stellungnahme, kein einfacher und vor allem auch ein sehr belastender Einsatz für alle beteiligten Personen gewesen. Widrige äußere Umstände hätten das sich dynamisch entwickelnde Geschehen zusätzlich erschwert. Mit dem Wissen von heute würde sich im Rückblick in der Tat Optimierungsbedarf in Bezug auf Meldewege feststellen lassen, der bereits aufgearbeitet worden sei. Jedoch sei – entgegen der veröffentlichten Darstellung – aufgrund der am 2. Februar 2023 während des Einsatzes bekannten Informationen kein Fehlverhalten der Rettungskräfte festzustellen gewesen. So die Einschätzung von Stadt und Kreis – und Albrecht Broemme.
Unter Berücksichtigung aller Aspekte der Untersuchung des Einsatzes sowie der weiteren Vorwürfe im Rahmen einer Dienstaufsichtsbeschwerde gebe es letztlich es auch für die in einem Zeitungskommentar geforderte sofortige Suspendierung von Ekkehard Grunwald (Erster Beigeordneter der Stadt), Thorsten Schild (Leiter Feuerwehr Recklinghausen) und des Ärztlichen Leiters Rettungsdienst des Kreises keine Grundlage.
Aus Gründen der Fairness veröffentlichen wir im Anschluss den Ablauf des Rettungseinsatzes aus Sicht von Stadt und Kreis im Wortlaut:
„Auf Grundlage einer Meldung der Notfallleitstelle der Deutschen Bahn wurden um 18.11 Uhr der Rüstzug Hauptwache sowie zwei Rettungswagen und ein Notarzteinsatzfahrzeug der Feuerwehr zum Bahnübergang an der Hubertusstraße alarmiert. Gegenstand der Mitteilung war ein Verdacht auf Personenunfall mit der Ortsangabe 100 Meter nördlich (in Richtung Hauptbahnhof) des Bahnüberganges.
Es handelt sich um ein übliches Vorgehen, mit der Suche möglicher verunfallter Personen am Ort der Kollision zu beginnen, da sie in der Regel dort aufgefunden werden. Dies bestätigt die Stellungnahme des Experten Albrecht Broemme. Beim Eintreffen der Feuerwehr war bereits die Bundespolizei vor Ort, zwei Beamte der Bundespolizei waren auf den Gleisen, Richtung Süden ca. 150 Meter entfernt.
Der Einsatz wurde mit einer für die Einsatzmeldung ausreichenden und üblichen Anzahl an Einsatzkräften (16) entsprechend der Vorgaben der Alarm- und Ausrückordnung begonnen.
Nach Vorliegen des von der Notfallleitstelle um 18.21 Uhr versandten Sperrfaxes und der damit einhergehenden Freigabe der Strecke zum Begehen, wurden die Feuerwehrkräfte unmittelbar entsprechend der Meldung Richtung Norden (in Richtung Hauptbahnhof) zur Erkundung geschickt. Es wurde Beleuchtung in beide Richtungen aufgebaut. Die Feuerwehr wirkte mit weiteren Kräften der Bundes- und Landespolizei zusammen, insbesondere bei der Suche nach der Unfallstelle und möglichen Unfallbeteiligten.

Die Feuerwehrkräfte, welche mit Hochdruck zur Erkundung vorgegangen waren, gaben gegen 18.30 Uhr die Rückmeldung an die Einsatzleitung, dass ca. 400 Meter Richtung Norden keine Feststellung zu machen ist. Ebenso kam die Rückmeldung der Bundespolizei, dass sie ca. 500 Meter Richtung Süden abgesucht habe und dort auch nichts finden konnte.
Es wurden alle in Betracht kommenden einsatztaktischen Maßnahmen geprüft. Der Start eines Polizeihubschraubers war wetterbedingt nicht möglich. So wurde um 18.25 Uhr eine Feuerwehrdrohne des Löschzugs Speckhorn mit Scheinwerfer, Kamera und Wärmebildkamera angefordert. Nach Sperrung des Luftraumes um 18.50 Uhr wurde die Drohne zweimal eingesetzt. Sie konnte im abgesuchten Bereich nördlich und südlich des Bahnübergangs aber keine vermissten Personen aufspüren. Um 18.42 Uhr wurde ein Rettungswagen mit der Bundespolizei zum Ostbahnhof/Dahlienweg geschickt, um dort zu erkunden und den möglicherweise unter Schock stehenden Lokführer zu versorgen.
Nachdem die Einsatzleitung die Mitteilung erhalten hatte, dass ein Kind am Zug gefunden wurde, wurde sofort die Verlegung des Einsatzortes von der Hubertusstraße zum Dahlienweg (rund eineinhalb Kilometer entfernt) veranlasst und alle Rettungskräfte und Rettungsmittel dorthin verlegt. Unter anderem musste die bereits installierte Beleuchtung abgebaut und verladen werden. Die Erstversorgung der verunfallten Kinder war durch die vor Ort bereits angekommenen Rettungs- und Notfallsanitäter gewährleistet. Ferner wurden sofort ein weiterer Rettungswagen sowie der Notarzt von der Hubertusstraße aus zu dieser Einsatzstelle geschickt. In der Zwischenzeit entdeckten die Einsatzkräfte am Ostbahnhof ein zweites Kind.
Die Erstversorgung der unfallbeteiligten Kinder erfolgte in schwer zugänglichem Gelände unter Einsatz der vorhandenen Mittel und Einsatzkräfte.
Die Sanitäter konnten bei einem der beiden Jungen keine Vitalzeichen feststellen und baten den Notarzt, das Kind zu untersuchen und seinen Zustand zu beurteilen. Der Notarzt stellte einen Atem- und Kreislaufstillstand fest. Auch im Rahmen der nachträglichen Beurteilung wurde festgestellt, dass dieser Junge bereits durch den Zusammenstoß tödliche Verletzungen erlitten hat.
Das andere Kind wurde vor Ort unter verantwortlicher Leitung des Notarztes versorgt und anschließend in eine Kinderklinik gebracht.“
Stadt und Kreis kommen zu anderen Bewertungen
– Nach den vorliegenden Einsatzprotokollen bewerten Stadt und Kreis die medizinische Versorgung gänzlich anders als in der Berichterstattung dargestellt. Der Notarzt vor Ort entscheide als medizinischer Einsatzleiter über das rettungsdienstliche Vorgehen. Er ordne konkrete Maßnahmen an und teile Rettungs- und Notfallsanitäter ein. Alle notwendigen Hilfsmittel – und dazu gehört auch Sauerstoff – hätten zur Verfügung gestanden, weil auch das Notarzt-Einsatzfahrzeug mit medizinischem Equipment ausgerüstet sei.
Im Folgenden äußern sich Stadt und Kreis zur Kritik an der Aufbereitung des Einsatzgeschehens und zu den Vorwürfen des Notarztes:
Direkt im Anschluss an den Einsatz am selben Abend habe eine erste Nachbesprechung stattgefunden. Wie bei der Feuerwehr üblich, würden dazu keine gesonderten Einladungen ausgesprochen; vielmehr sei allen Einsatzkräften bekannt, dass sie nach Ende eines derart belastenden Einsatzes noch einmal zusammenkommen. Der Notarzt hätte bereits zuvor nach Übergabe des verletzten Kindes seine Schicht ohne Rücksprache beendet.

Aufgrund der Hinweise des Notarztes in einer E-Mail vom 8. Februar 2023, in der dieser insbesondere strafrechtlich relevante und schwerwiegende Anschuldigungen in Bezug auf den Tod eines Kindes gegen andere Einsatzkräfte in den Raum stellte, habe bereits wenige Tage nach dem Einsatz eine umfangreiche Aufarbeitung des Ablaufs und vor allem der medizinisch-rettungsdienstlichen Versorgung stattgefunden. Dazu wären alle Dokumentationen geprüft und Gespräche mit Beteiligten des Einsatzes geführt worden, die an der Erstversorgung der Kinder beteiligt waren. Die Darstellungen der Rettungskräfte hätten sich von den Angaben des Notarztes sehr deutlich unterschieden. Die durch ihn geäußerten Vorwürfe hätten sich nicht bestätigt.
Ein zweiter, späterer Austausch zum Einsatz am 21. Februar 2023 habe aufgrund der durch den Notarzt erhobenen Vorwürfe ohne dessen Beteiligung stattgefunden. Gegenstand dieser Nachbesprechung sollte maßgeblich auch die psycho-soziale Betreuung der durch den außergewöhnlichen Einsatz teils schwer belasteten Einsatzkräfte sein. Aufgrund dieser Zielsetzung habe man von einer Anwesenheit des Notarztes, der einigen der betroffenen Rettungskräfte schwerste Vorwürfe gemacht hatte, abgesehen.
Gleichwohl sei dem Notarzt durch den Ärztlichen Leiter Rettungsdienst des Kreises Recklinghausen eine individuelle Besprechung mit dem Leiter der Feuerwehr zu den von ihm vorgebrachten Vorwürfen angeboten worden. Dieses und auch weitere Gesprächsangebote habe er nicht wahrgenommen.
Vertrauensverhältnis sei enorm belastet gewesen
Aus aktuellem Anlass hätten Stadt und Kreis das Einsatzgeschehen dann ein zweites Mal bewertet und wären erneut zu dem Ergebnis, dass kein Fehlverhalten der Rettungskräfte vorlag. Zusätzlich seien Albrecht Broemme alle Dokumente zum Ablauf des Einsatzes vorgelegt worden. Broemme sehe nach seiner Prüfung keinen Grund zur Beanstandung des Einsatzes. Es sei nicht erkennbar, dass irgendwelche Umstände, für die Einsatzkräfte verantwortlich sind, für den tragischen Verlauf des Einsatzes verantwortlich seien. Verbesserungspotenzial habe er bei der Kommunikation zwischen Bundespolizei, Landespolizei und Feuerwehr ausgemacht. So sei zwischenzeitlich die Meldung eingegangen, dass möglicherweise fünf Personen betroffen seien.
Das für gemeinsame Einsätze zwischen Feuerwehr und Notärzten unerlässliche enge Vertrauensverhältnis werde durch den Leiter der Feuerwehr und den Ärztlichen Leiter Rettungsdienst Kreis Recklinghausen als sehr belastet bewertet. Vor dem Hintergrund einer unzumutbaren Einsatzbelastung hätten einige diensthabende Einsatzleiter der Feuerwehr die Entscheidung getroffen, den gemeinsamen Einsatz mit dem betreffenden Notarzt abzulehnen. Das hätte zur Folge gehabt, dass in diesen Fällen ein weiterer Notarzt hinzugezogen worden sei. Der Grund für diese Entscheidung sei jeweils die Befürchtung gewesen, dass ein Einsatz im Zusammenwirken mit dem betroffenen Notarzt nicht optimal verlaufen könnte, da die Gefahr bestehe, dass Rettungskräfte durch die Zusammenarbeit verunsichert und gehemmt sein könnten.
Albrecht Broemme habe dazu erklärt, dass die getroffene Anordnung des Leiters der Feuerwehr, regelmäßig einen weiteren Notarzt heranzuziehen, aufgrund des belasteten Vertrauensverhältnisses folgerichtig und nicht zu beanstanden sei: „Die interdisziplinäre Zusammenarbeit mehrerer Einheiten auf einer Einsatzstelle setzt Vertrauen und Zuverlässigkeit voraus und erfordert eingeübte, standardisierte Abläufe. Das Arbeiten ,Hand in Hand‘ unter Stress bzw. bei belastenden Einsätzen ist definitiv nicht möglich, wenn zwischen Einsatzeinheiten oder zwischen einzelnen Personen Argwohn oder Misstrauen bestehen. Es fehlt dann an der erforderlichen Kommunikation.“
Notfallunterversorgung habe es nicht gegeben
Das Vorgehen des jeweiligen Einsatzleiters halte Broemme damit für zulässig, es führe auch zu keiner „Notfall-Unterversorgung“. Dies gelte auch für die durch den Ärztlichen Leiter Rettungsdienst später festgelegte Verfahrensweise, wonach seitens der Leitstelle immer das gemäß Alarm- und Ausrückordnung zu alarmierende Noteinsatzfahrzeug alarmiert und in den Einsatz geschickt werde und es den Führungsdiensten der Feuerwehr sodann je nach Einsatzlage freistehe, einen weiteren Notarzt nachzualarmieren.
Eine generelle Weisung von Feuerwehrleiter Thorsten Schild habe es zu diesem Vorgehen nicht gegeben. Jeder Einsatzleiter entscheide eigenverantwortlich, welche Mittel er für die optimale Durchführung eines Einsatzes benötigt.
In der Regel treffe der Rettungswagen mit Notfallsanitätern zuerst vor Ort ein, sodass bereits vor Eintreffen des Notarztes lebensrettende Maßnahmen ergriffen werden. Dies war auch bei den ebenfalls in der Medienberichterstattung genannten Einsätzen in Recklinghausen und Castrop-Rauxel der Fall. Der Vorwurf einer latenten Notfallunterversorgung treffe nicht zu.
Kreis und Stadt würden sich zudem weiter um eine Klärung der Situation bemühen. Dem Notarzt seien mehrfach Gesprächsangebote gemacht und eine Vielzahl an Terminvorschlägen unterbreitet worden. Leider habe der Notarzt keinen dieser Termine wahrgenommen.
Der Ärztliche Leiter Rettungsdienst des Kreises Recklinghausen, der selbst nicht bei dem Einsatz vor Ort war, habe zudem vorgeschlagen, sich mit allen an der Versorgung des Kindes beteiligten Rettungskräften zu einem klärenden Gespräch zu treffen, um die unterschiedlichen Sichtweisen zu erläutern. Falls gewünscht, könne er eine moderierende Rolle einnehmen. Auch dies sei vonseiten des Notarztes abgelehnt worden.

In einem nächsten Schritt sei ein Gespräch mit der Leitung des Elisabeth-Krankenhauses, dem Arbeitgeber des Notarztes, vereinbart worden. Ziel dieses Termins sei die Klärung der weiteren Zusammenarbeit gewesen. Es sei nicht darum gegangen, den Notarzt persönlich anzugehen oder auf dieser Ebene ein Personalgespräch durchzuführen, das ohnehin nur vom Elisabeth-Krankenhaus selbst einberufen werden könnte.
Stadt und Kreis ziehen dieses Fazit:
Die Prüfung der Dienstaufsichtsbeschwerden gegen den Leiter der Feuerwehr, Thorsten Schild, und den Beigeordneten Ekkehard Grunwald sei abgeschlossen. Bewertet worden seien die dienstrechtlichen Fragestellungen bei der Stadtverwaltung sowohl durch den Dienstherrn als auch durch eine unabhängige Kanzlei. Diese Kanzlei habe bereits für die Stadt die Forderung nach Suspendierung geprüft. Da weder eine Missachtung rechtlicher Vorschriften noch ein unangemessenes Verhalten habe festgestellt werden können, würden Thorsten Schild und Ekkehard Grunwald weiter im Dienst verbleiben.
Die Prüfung der Dienstaufsichtsbeschwerde gegen den Ärztlichen Leiter Rettungsdienst des Kreises Recklinghausen, die durch den Dienstherrn und eine unabhängige Kanzlei erfolgte, sei ebenfalls abgeschlossen. Ein entsprechender Bericht sei der Bezirksregierung übermittelt worden, deren Entscheidung jedoch noch aussteht.
Die in sozialen Medien geäußerten Mutmaßungen, dass Albrecht Broemme mit Thorsten Schild gut bekannt und deswegen befangen sei, kann unsere Redaktion so nicht bestätigen. Dass sich beide in der Vergangenheit getroffen haben, ist jedoch nicht unwahrscheinlich: Albrecht Broemme hat Recklinghausen als THW-Präsident besucht.