
Mehr Herabschauen geht nicht: Im grellen Licht eines Smartphones schlägt ein auf dem Boden liegender Mann immer wieder die Decke über seinem Kopf zurück und bittet die über ihm stehende Person, die ihn filmt, ihn alleine zu lassen. „Lass es um 4 Uhr morgens! Lass mich in Ruhe um 4 Uhr morgens.“ Doch die Person hält erbarmungs- und wortlos weiter auf den Obdachlosen, der nachts unter freiem Himmel in Recklinghausen zu schlafen versucht. Etwa zehn Sekunden lang ist das Video, das bei Instagram vom Profil „gottesmemes“ bereits am 13. Mai dieses Jahres veröffentlicht worden ist. Knapp 8500 User haben den Clip mit „gefällt mir“ markiert. Diese Redaktion hat das Video Ludger Ernsting (67) gezeigt. Er ist Pfarrer in der Gastkirche, einer Anlaufstation für Obdachlose in der Stadt. „Das ist tiefste Verachtung menschlicher Würde“, sagt er.
Neuer Grad der Diskriminierung
Ernsting erkennt den Mann sofort, nennt ihn beim Namen. Das Video hat der Pfarrer zuvor noch nicht gesehen. Aber ein anderes, in dem genau dieser stadtbekannte Obdachlose ohne seine Einwilligung die Hauptrolle spielt. Vor etwa drei Monaten sei er darauf gestoßen. „Für mich ist das Hass-Kriminalität“, sagt der 67-Jährige. „Menschen werden in ihrer Schwäche bloßgestellt. Das erleben wir nicht selten solchen gegenüber, deren Lebensraum der öffentliche Raum ist. Sie haben keine Tür, die sie hinter sich zuziehen können. Wir erleben einen neuen Grad der Diskriminierung, die Grenzen des Respekts verschieben sich.“

In dem ihm bislang bekannten Video, so Ernsting, sei zu sehen, wie eine Gruppe von Menschen eine diebische Freude daran habe, „ihn zu jagen und zu diskriminieren“. Auch in diesem Clip bitte der Mann nachdrücklich darum, in Ruhe gelassen zu werden. Sind dem Pfarrer weitere Fälle bekannt? Kommen Obdachlose auf ihn zu und erzählen davon, gefilmt worden zu sein?
„Auf Filme bin ich noch nicht angesprochen worden. Aber Bedrohungen erfahren diese Menschen durchaus. Sie berichten davon, dass sie angerempelt oder mit negativen Bemerkungen bedacht werden. Manche spucken vor ihnen aus. Und manchmal geht es auch um körperliche Gewalt. Der Schritt vom Wort zur Tat ist oft nur ein kleiner.“
Ernsting erinnert in diesem Zusammenhang an die (mehrfach) vergewaltigte Obdachlose aus Recklinghausen. Und an die in einem Geldautomaten-Vorraum der Sparkasse an der Schaumburgstraße Übernachtende, die von einem Security-Mann mit Fäkalien beschmiert worden war. 2020 war das.
Dass übergriffiges Verhalten Obdachlosen gegenüber nun auch seinen Weg ins Netz findet, beunruhigt Ernsting: „Das Internet ist ein Skript ohne Radiergummi und ohne Löschfunktion. Davon unabhängig gibt es Gott sei Dank aber auch sehr viele Menschen, die Obdachlosen mit Respekt und Solidarität begegnen.“ Unter dem Instagram-Video tauchen auch einige empörte Kommentare auf. Viel größer ist allerdings die Zahl derer, die sich über den obdachlosen Mann lustig machen.