
Zudem gibt es einen guten Grund, den heutigen Stadtteil und das bis 1926 selbständige Dorf Suderwich aufzugreifen: Hier stoßen wir nämlich auf das älteste noch vorhandene Schulgebäude des Stadtgebiets. Leider befindet es sich nicht mehr im ursprünglichen Zustand und man würde es sicherlich übersehen, wenn nicht an der Südfassade eine Bronzetafel auf seine historische Bedeutung hinweisen würde.

Eigentlich müsste es, wenn man den Quellen des 19. Jahrhunderts Glauben schenken würde, längst dem Abbruch anheimgefallen sein. So aber dient das aus dem Ende des 17. Jahrhunderts stammende Gebäude immerhin noch zu Wohn-zwecken. Dafür sind Nachfolgebauten nordöstlich des neuen Kreisverkehrs an der Esseler Straße/Hochfeld längst verschwunden.

In den Anfängen des Suderwicher Schulwesens war von Professionalität noch keine Rede. Im Dorf wurde wahrscheinlich seit Ende des 17. Jahrhunderts, nach Loslösung der Dorfkirche von der Mutterkirche St. Peter in Recklinghausen Schule gehalten. Der erste nachweisbare Lehrer war der Küster Jodokus Schmidt. Bevor ein offizielles Schulhaus genutzt werden konnte, fand der Unterricht vermutlich in verschiedenen Häusern des Dorfes statt. Die Besoldung des Küster-Lehrers bestand aus Naturalien und Geldleistungen für verschiedene Dienste.
Lehrer ohne Ausbildung – das ging
Sein Nachfolger als „custos et ludimagister“ – also Küster und Schulmeister – wurde 1726 der aus Suderwich stammende Melchior Hillebrandt. Nach dessen Tod übernahm sein Sohn Henrich Josef das Amt, ohne jemals eine Ausbildung zum Lehrer erfahren zu haben. Seine Kenntnisse und Fähigkeiten hatte er sich lediglich – um es modern auszudrücken – durch Hospitationen bei seinem Vater erworben.
Erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts griff der „Staat“, also der Kölner Kurfürst, in das bislang ungeregelte Schulwesen ein. Oft saßen zu dieser Zeit noch mehr als 100 Jungen und Mädchen unterschiedlichen Alters auf Bänken oder Fußboden in einem Raum. Der Unterricht bestand in der Hauptsache aus Lese- und Memorierübungen mit religiösen Texten und einfachen Rechenaufgaben. Jedes Kind übte laut und mit Hilfe eines älteren Mitschülers. Hilfen wurden vom Lehrer in der Regel nicht gegeben, wohl aber fanden Überprüfungen einzelner Kinder statt. Körperliche Strafen waren an der Tagesordnung, um bei dieser Form des Unterrichts die Disziplin wahren zu können.

Im Suderwicher Schulhaus an der Sachsenstraße, das aus dem Ende des 17. Jahrhunderts stammt, war im Erdgeschoss Platz für die Lehrerwohnung. Im Obergeschoss befand sich ein ca. 49,5 m² großer Schulraum mit einem Ofen und einigen rohen Bänken. Über winzige Fenster erhielt er nur ein spärliches Licht und konnte lediglich über eine schmale Innentreppe erreicht werden.
Im 18. Jahrhundert übten neue pädagogische Ideen starke Einflüsse auf das vorhandene Schulwesen aus, so dass eine umfassende Reform und Neustrukturierung einsetzte, die auch eine moderne Lehrerausbildung und eine staatliche Schulaufsicht beinhaltete. In Suderwich kam es – wie im übrigen Vest Recklinghausen – unter den letzten beiden Kurfürsten Maximilian Friedrich und Maximilian Franz gegen Ende des 18. Jahrhunderts zu ersten Reformansätzen. Eine Kommission unter der Leitung von Anton Wiggermann prüfte Schulgebäude und Lehrersituation.
Eine allgemeine Schulpflicht und die Lehrerausbildung in sog. Normalkursen wurden danach eingeführt. Es dauerte aber noch geraume Zeit, bis die Maßnahmen zu positiven Ergebnissen führten und in Suderwich Lehrer unterrichteten, die entsprechend vorgebildet waren. Die staatliche Schulpflicht ließ sich dagegen nicht so einfach durchsetzen, denn zumindest im Sommer wurden die Kinder in der Landwirtschaft benötigt und dann von den Eltern nicht zum Unterricht geschickt.

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurde der schlechte Zustand des Suderwicher Schulhauses immer offensichtlicher. Ein notwendiger Neubau wurde von 1809 bis 1828 immer wieder verschoben, denn die Gemeinde wollte das dafür benötigte Kapital nicht einsetzen.
Argumente der Befürworter eines Schulneubaus waren: die schlechte bauliche Beschaffenheit des Schulgebäudes, aber auch die hohen Schülerzahlen, die in diesem Zeitraum zwischen 116 und 150 Kindern schwankte. Schließlich konnte 1828 ein neues Schulhaus an der heutigen Straßenecke Esseler Straße/Im Hochfeld bezogen werden. 1891 und 1895 erfolgten bauliche Erweiterungen.
Die für Suderwich und Essel – bis 1858 zudem für Pöppinghausen – zuständige einklassige Schule hatte während des 19. Jahrhunderts eine lange Zeit nur einen Lehrer. Als Kuriosum ist hierbei zu werten, dass diese Lehrerstelle durchgängig von einem Mitglied der Suderwicher Familie Schröder besetzt wurde, so dass von einer Lehrerdynastie gesprochen werden kann.

Erst im Jahre 1865 gab es an der Dorfschule größere Veränderungen: Mit der Einrichtung einer zweiten Lehrer-stelle wurde die Schule zweiklassig ausgebaut und es kam zu einer Geschlechtertrennung in eine Jungen- und eine Mädchenklasse. Die bei weitem größere Neuerung, um1834 in Preußen eingeführt, war der Einsatz einer weiblichen Lehrkraft, des „Fräulein Lehrerin“. Vorgesehen war, dass Frauen nur bis zur Heirat diesen Beruf ausüben durften, denn die lebenslange Berufstätigkeit entsprach nicht der gängigen bürgerlichen Frauenrolle. Rechtsgrundlage bildete ein Reichsgesetz von 1880, das den Anstellungsbehörden erlaubte, Lehrerinnen nach ihrer Verheiratung aus dem Dienst zu entlassen, was aber je nach Arbeitsmarktsituation flexibel gehandhabt wurde. Die Weimarer Verfassung schaffte zwar 1919 das sog. „Lehrerinnenzölibat“ ab, eine Verordnung von 1923 führte die alte Regelung jedoch wieder ein. Sie galt bis 1951.
„Fräulein“ Brüggemeier kam aus Brochterbeck
Das erste Suderwicher „Fräulein“ stammte aus Brochterbeck (Tecklenburg) und hieß Brüggemeier. 1891 wurde Im erweiterten Schulgebäude sogar eine Schulwohnung für die Lehrerin eingerichtet. Bis 1919 stand die Suderwicher Schule wie überall unter Aufsicht des örtlichen Pfarrers. Nur in der kurzen Zeit zwischen 1872 und 1878 übte ein weltlicher Schulaufsichtsbeamter diese Funktion aus.
Während der Kaiserzeit waren strenge Schulregeln angesagt, die noch in den einschlägigen Schulordnungen für die Volks-schulen im Kreis Recklinghausen nachzulesen sind. Dazu gehörten: Pünktlichkeit, Ordnung, reinliche Kleidung und körperliche Sauberkeit. Während des Unterrichts mussten die Schüler die Augen nach vorne zum Lehrer ausrichten und eine „schöne und gesundheitsmäßige Haltung“ einnehmen. Folgsamkeit und Gehorsam waren weitere Vorgaben an die Schüler. Auch das Privatleben der Schüler wurde von der Schule beobachtet und bei Verstößen folgten entsprechende Ermahnungen.
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts war die Schülerzahl der Suderwicher Schule derart angestiegen, dass nun ein vierköpfiges Lehrerkollegium für den Unterricht zuständig war und der Schulleiter zum „Hauptlehrer“ ernannt wurde. Der Arbeitskräftebedarf im Bergbau und der damit zusammenhängende Anstieg der Suderwicher Bevölkerung brachte einen weiteren Anstieg der Schülerzahlen mit sich. 1902 wurde die Marke von 470 Schülern erreicht und bald übertroffen. Nun mussten im bislang rein katholischen Suderwich auch evangelische Schüler in einem eigenen Schulgebäude beschult werden. Das machte schließlich den Bau von drei neuen Schulgebäuden notwendig.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts änderte sich also das Schulgefüge im Dorf grundlegend. Suderwich besaß nun vier Schulgebäude: die alte Dorfschule mit zwei Anbauten an der Esseler Straße/Hochfeld, eine evangelische und eine katholische Volksschule an der Schulstraße und ein weiteres Volksschulgebäude an der Henrichenburger Straße.
INFO: Wer mehr zum Thema wissen möchte: der Verfasser hat 2010 ein Buch dazu im Verlag Winkelmann veröffentlicht, das noch im Buchhandel erhältlich ist: „Die Disziplin ist gut … das Schulgebäude selbst aber befindet sich in allerschlech-testem Zustande“ – Die Geschichte des Suderwicher Elementarschulwesens