Persönliches Aufwachsen in der Kleinstadt: „Keiner sagt was über mein Kaff!“

Auch wenn man in der Pubertät, wenn man nachts lange draußen und feiern sein will, beginnt, seine kleinstädtische Heimat zu hassen, bleibt das Herz dennoch immer irgendwie zu Hause. Das weiß auch Annika. © Kelly L von Pexels
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Wer in einer vergleichbar kleinen Stadt – wie ich in Marl – aufgewachsen ist, kennt die spezielle Hassliebe, die man zu seiner Heimat aufbaut. In einer kleinen Stadt gibt es nämlich einiges zu meckern – vor allem dann, wenn man fröhlich vor sich hin pubertiert. Typische Hassobjekte sind beispielsweise der öffentliche Nahverkehr, der gefühlt pünktlich um 18 Uhr Feierabend macht und damit die Mobilität zu einer persönlichen Angelegenheit eines jeden, der dann noch nicht ins Bett gehen möchte.

Ich nenn all diejenigen jetzt mal überspitzt „Dorfkinder“. Und „Dorfkinder“ wissen deswegen, wie es ist, eine 7 Kilometer-Tour leicht angeheitert in der Nacht bei Minusgraden hinter sich zu bringen, weil der nächste Bus erst wieder am Morgen fährt.

Keine attraktiven Ziele für Jugendliche

Der zweite Mecker-Punkt, der mit dem ersten unmittelbar zusammenhängt, bezieht sich darauf, dass man gar nicht wüsste, wo man hinfahren sollte, würde es einen funktionierenden öffentlichen Nahverkehr geben. Kneipen, Pubs, Bowlingbahnen … alles irgendwie nicht so wirklich vorhanden.

Stattdessen erobert man sich Kneipen, die von Stammgästen besetzt sind, die sich immer wieder über die jungen Hupfer ärgern, die die alteingesessene Ruhe stören – um dann zu merken, dass man dort zwar Bier trinken kann, aber nicht wirklich willkommen ist.

Annika (hier vor der alten Kirche in Marl-Hamm) hat so einiges an ihrer Heimatstadt zu meckern und zu kritisieren. Aber wehe jemand von außen fängt an, über Marl herzuziehen! © Privat

Spielplatz und Keller werden zu Kneipe und Club

Deswegen wird auch gerne der nächste Spielplatz zur Kneipe der Dorfkinder. Man trifft sich dann halt draußen oder bei Freunden im Keller und träumt von großen Städten, in denen auch mal bekannte Bands und nicht nur Bands von Freunden und Bekannten auftreten oder man wünscht sich, auch nach 22 Uhr noch irgendwo etwas zu essen zu bekommen.

Ein Dorfkind will auf keinen Fall in seiner Heimatstadt bleiben, sondern die große Welt sehen. Und jedes Mal, wenn die Sprache auf das Thema kommt, wertet es alles ab. So weit, so gut.

Meckern dürfen nur die Einwohner

Doch wehe dem, der es wagt ein Urteil über eine kleine Stadt zu fällen, in der er oder sie nicht aufgewachsen ist oder zumindest eine Zeit lang gelebt hat. Ich war zum Beispiel nie so richtig glücklich, in Marl zu leben, doch wenn ein „Außenstehender“ anfängt, Marl zu kritisieren, werde ich zum Tourismusführer und zähle all die kleinen feinen Dinge auf, die Marl lebenswert machen.

Ich spreche von einem Luftkissendach, als wäre es das Bedeutendste der Welt, erwähne das Adolf-Grimme-Institut und damit die Bedeutung der Stadt für Medienmacher und bewerbe unser Naherholungsgebiet Richtung Kanal und Lippe, das manche vielleicht schon zu Haltern zählen möchten.

Keiner außer mir und meinen Leidensgenossen, die ebenfalls in dieser Stadt gelebt haben, dürfen in meiner Gegenwart etwas Schlechtes über Marl sagen. Sonst gibts Ärger. Und einen Vortrag darüber, warum Marl trotz beschissenem Busnetz trotzdem ganz nett ist.

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