Vom Woodstock-Flair zu Slipknot Wie sich Rock am Ring in 40 Jahren weiterentwickelt hat

Very Special Guest „Electric Callboy“ – hier Nico Sallach – tritt zum Auftakt des Open-Air-Festivals Rock am Ring auf der Utopia Stage auf.
Very Special Guest „Electric Callboy“ - hier Nico Sallach - tritt zum Auftakt des Open-Air-Festivals Rock am Ring auf der Utopia Stage auf. © picture alliance/dpa
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Die 40. Ausgabe des Festivals „Rock am Ring“ ist eröffnet. Auf der Utopia-Stage am Nürburgring starten Electric Callboy am Freitagmittag die Jubiläumsausgabe des Festivals – die Band aus Castrop-Rauxel, die 2022 noch Eskimo Callboy hieß und wegen angeblich mangelnder Radiotauglichkeit ihres Songs um ihre ESC-Chance gebracht worden war. Mit diesem Stück – „Pump It – legen sie denn auch los: „I wanna feel it day and night / my workout, my delight …“. Bis Sänger Nico Sallach und seine Mannen die Hauptbühne betraten, wusste keiner von ihrer Teilnahme. Auf den Zeitplänen des Festivals hieß es nur: „very special guest“.

Die Vermutungen der Fans waren ins Kraut geschossen, hatten von den Toten Hosen über die Donots bis hin zu Hip-Hop-Acts wie Alligatoah oder Kraftklub gereicht. Die derzeit ebenfalls tourenden Nu-Metal-Helden Linkin Park hätten angeblich abgesagt. Auch der zweite Act war bis zum Auftrittsbeginn „top secret“: Es sind dann Roy Bianco & Die Abbrunzati Boys, die Bayern, die parodistisch angehauchten Italoschlager liefern, womit sie schon beim Tollwood waren und bei der ZDF-Silvestershow.

„Baby, drück das Gaspedal / ich will mit dir baden in der Adria“ geht ihr Set los mit der „Brennerautobahn“. „Rock am Ring, geht es euch gut?“, fragt Roy. Das Ring-Volk umarmt auch diese Überraschungsgäste.

Very Special Guest Electric Callboy - hier Kevin Ratajczak - tritt zum Auftakt des Open-Air-Festivals Rock am Ring auf der Utopia Stage auf.
Very Special Guest Electric Callboy – hier Kevin Ratajczak – tritt zum Auftakt des Open-Air-Festivals Rock am Ring auf der Utopia Stage auf.© picture alliance/dpa

Mehr als 100 Bands spielen nun bis Pfingstsonntag auf vier Bühnen für 90.000 Leute. Der Freitagnachmittag wird windig, bleiben, ab 22 Uhr besteht eine Regenwahrscheinlichkeit von 75 Prozent. Samstag und Sonntag muss man sich den Ring wohl wettermäßig schönrocken.

Beim ersten „Rock am Ring“ brüllte die Sonne

Beim Debüt von „Rock am Ring“ vor 40 Jahren brüllte dagegen die Sonne. Und auf den ersten Blick habe die Boxengasse am Nürburgring ausgesehen wie ein vollgestopftes Freibad, erinnerte sich am Freitagmorgen im „Deutschlandfunk“ ein Südwestfunk-Reporter. Musikfans aus der gesamten (West-)Republik waren für das Wochenende des 25. und 26. Mai in die Eifel gereist.

Man zog sich unter mitgebrachten Badetüchern Badesachen an und legte sich in die Sonne. Es war Jahrzehnte vor dem Bataclan-Anschlag, als man noch bepackt zu Konzerten durfte statt mit maximal DIN-A4-großen Taschen, und als Umbaupausen gefühlt ewig dauerten. Die Veranstaltung hatte, bei aller professionellen Planung, ein dezentes Hippieflair.

Seit Woodstock hatte sich die Rockmusik verändert

Die Macher waren auch inspiriert von Woodstock, das – friedlich, frei und gratis – zum Festival-Maßstab überhaupt wurde, und trotz des notorisch schlechten Wetters als Musik-Peak der Hippie-Ära bis heute in einem mythischen Ruf steht. Die Veranstalter von Mama-Concerts – Marek Lieberberg und Marcel Avram – wollten diese US-Großfestivalkultur nach Deutschland holen.

Bei Woodstock, dem dreitägigen Musikfest auf den Weidegründen eines Milchbauern im Hinterland von New York, waren 1969 32 Acts vor etwa 400.000 Leuten aufgetreten. Am Ring der Rennfahrer waren es 1985 17 Bands an zwei Tagen vor 70.000 Leuten. 49 Mark kostete die Karte. Trotzdem: So etwas Großes hatte man in der Bundesrepublik noch nicht gesehen. Auch Michael Sadler, Sänger der kanadischen Progrockband Saga war überwältigt vom „Meer der Menschen“, als er die – sehr hohe – Bühne betrat.


Rock, Folk und Folkrock hatte zu Zeiten von Woodstock freilich noch die Generationen getrennt. Und auf dem Festivalgrund nahe der Kleinstadt Bethel waren viele Stars und Bands aufgetreten, die zur Speerspitze der jungen Gegenkultur zählten. Dazu kamen Newcomer wie Santana oder Joe Cocker, deren Stern hier aufstieg. Mitte der 80er-Jahre hatten Rock und Pop dagegen das deutsche Radio erobert und den zuvor die Sender beherrschenden Schlager vom Thron geboxt.

Der softeste Headliner der „Rock am Ring“-Geschichte

Der Headliner des ersten Ring-Samstags hätte heute, wo Rock, Punk, Hip-Hop das Festival dominieren, keine Chance mehr. Es war, man mag es kaum glauben, Chris de Burgh. Der irische Songwriter hatte sich vom schmachtenden Romantik-Folkie der zweiten Reihe, der er in den 70er-Jahren gewesen war, mit angerockten Popsongs wie „The Getaway“ oder „High on Emotion“ zum Liebling von Otto Normalpophörer entwickelt.

Am Pfingstsonntag waren Foreigner der Hauptact – auch die britisch-amerikanische Gruppe hatte mit ihrem 1984er Album „Agent Provocateur“ ihren Wandel zur Mainstreamband vollendet – Balladen wie „I Want to Know What Love Is“ und „Waiting for A Girl Like You“ hatten ihr den Massenzulauf beschert.


2025 ist Rock am Ring fest in harten Händen. Die Headliner auf der Hauptbühne (es gibt vier Bühnen am Ring) – am Freitag endet der erste Festivaltag mit der einstigen Deathcoreband Bring Me The Horizon aus Sheffield, den Samstag beenden Slipknot, den Pfingstsonntag Korn.

U2 waren die Publikumslieblinge des ersten Festivals

Publikumsliebling 1985 waren U2, die am ersten Tag vor Chris de Burgh auftraten. Mit ihrer Martin-Luther-King-Hommage „Pride“ waren die Iren gerade auf ihren ersten Metern ihres Wegs zur Superband, zählten aber eigentlich noch zur Indieszene, die in der Folge der Punk-Revolution von 1976/77 aufgeblüht war. Als Bono auf der Bühne mit einem Fan tanzte, wurde das von den restlichen 69.999 Fans begeistert gefeiert.

Auch andere junge Namen waren vertreten: etwa Lone Justice, die hoffnungsvolle Americana-Band um Maria McKee oder The Alarm, die walisischen Alternative-Rocker um den vor Monatsfrist verstorbenen Sänger Mike Peters, bei deren „Sixty-Eight Guns“ respektable Ring-Chöre zusammenkamen.

Joe Cocker endete mit demselben Song wie in Woodstock

Der lebende Link zu Woodstock war dann Joe Cocker, der auf beiden Festivals auftrat und dessen Comeback 1982 mit dem Filmduett „Up Where We Belong“ (aus „Ein Offizier und Gentleman“) begonnen hatte, sich aber erst im Jahr nach Rock am Ring mit dem Album „Cocker“ voll entfalten sollte. Wie 1969 beschloss er seinen Auftritt mit seiner gospeligen Coverversion des Beatles-Songs „With A Little Help from My Friends“.

Marius Müller-Westernhagen, Rangdritter auf den Festivalplakaten für den Pfingstsonntag – hinter Foreigner und Saga – war damals in einem Karriere-Zwischentief und noch gut vier Jahre vom Album „Halleluja“, der Stones-Hommage „Sexy“ und dem Super-Marius-Status entfernt.


Enorme stilistische Bandbreite, enorm viele Sonnenbrände

Die stilistische Bandbreite war enorm – er reichte von der rauen Italorockerin Gianna Nannini über die englisch-schottischen Genesis-Epigonen Marillion bis zu den Rock’n’Soul-Tausendsassas Mink DeVille um den exzentrischen Sänger Willy DeVille. Auch der angesagte R&B-Rocker Huey Lewis war mit seiner Band The News am Start und warf schon als fünften von zwölf Songs seines Sets seinen kommenden größten Hit „The Power of Love“ ins Publikum. Die Single zum Film „Zurück in die Zukunft“ veröffentlichte Lewis erst drei Wochen nach „Rock am Ring“.

Nie hatte man in Deutschland so viel Rock auf einmal gehört (und nie hatte man so viele Sonnenbrände auf einmal gesehen). Das Festival sollte einmalig sein, wurde aber des großen Erfolgs wegen fortgeführt, mit mehr Bands und mehr Bühnen – bis heute. 1985 aber ging es zunächst mal in die Breite. Ein großer Teil der Samstagsbelegschaft von Rock am Ring spielte am Pfingstsonntag beim eintägigen „Rock in Stuttgart“. Es gab in der Folgewoche Ableger wie „Rock in St. Gallen“ (27. Mai), „Rock in Basel“ (1. Juni), „Rock in München“ (2. Juni) und auch „Rock in Nürnberg“ (1. Juni). In München startete 1995 der Süd-Ableger „Rock im Park“, das Zwillingsfestival, das dann 1997 nach Nürnberg wechselte.

Andere deutsche Rock-Großfeste kamen dazu: 1990 startete der spätere Metal-Welttreffpunkt „Wacken Open Air“, 1997 das „Hurricane“-Festival in Scheeßel, 2000 dessen Schwesterfest „Southside“.

U2 traten sieben Wochen später bei Live Aid auf

Nur gut anderthalb Monate nach „Rock am Ring“ setzte am 13. Juli 1985 „Live Aid“ den Maßstab für Charity-Festivals und wurde das nach Woodstock zweite große Rockfest der Geschichte. Von Rock am Ring waren nur die Middle-of-The-Road-Rocker REO Speedwagon und U2 dabei. Laut Sänger Bono verdankten U2 ihre Teilnahme auch nur dem Song „Pride“. Den fand Live-Aid-Organisator Bob Geldof toll, und verzieh Bono dafür, wie der U2-Sänger jüngst in der Doku „Bono: Stories of Surrender“ verriet, sogar seinen Vokuhila.

Rock am Ring findet vom 6. bis 8. Juni am Nürburgring in der Eifel statt. Mit 90.000 Besucherinnen und Besuchern ist das Festival ausverkauft. Es spielen 100 Bands auf vier Bühnen. Parallel findet in Nürnberg das Zwillingsfestival Rock im Park statt.

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